Rezension über:

Sabine Rewald: Rooms with a View. The Open Window in the 19th Century, New Haven / London: Yale University Press 2011, XIII + 190 S., ISBN 978-0-300-16977-5, EUR 20,00
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Maria Müller-Schareck (Red.): Fresh Widow. Fensterbilder seit Matisse und Duchamp, Ostfildern: Hatje Cantz 2012, 288 S., ISBN 978-3-7757-3292-5, EUR 39,80
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Rezension von:
Heike Herber-Fries
Museum Morsbroich, Leverkusen
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Heike Herber-Fries: Das Fenstermotiv in der Malerei der Moderne (Rezension), in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 11 [15.11.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/11/20081.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Das Fenstermotiv in der Malerei der Moderne

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Die zwei vorliegenden Ausstellungskataloge eint das Interesse für ein bei europäischen Künstlern, Kunsthistorikern und Bildphilosophen gleichermaßen populäres Motiv. Während die New Yorker Publikation "Rooms with a View" das Thema für die europäische Malerei des 19. Jahrhunderts fokussiert, gibt die Düsseldorfer Schau einen Überblick über die Kunst von 1912 bis heute. Eine Erklärung für die anhaltende Faszination liegt darin begründet, dass das Fenster als eine der "anthropologischen Grundkonstanten" [1] des behausten Menschen gelten kann, welche mit dessen "zentraler Stellung im visuellen Erleben" [2] zusammenhängt. Zudem übt seine Polyvalenz wie gleichzeitige Selbstreflexivität große Anziehungskraft auf Künstler aus. "The enduring appeal, however, lies in the inherent self-reflection of the painted motif: the rectangular or square shape of the canvas perfectly echoes the window as a view to the world" (Rewald, 5).

Seit Leon Battista Alberti in seinem Theorietraktat über die Malerei (De pictura) 1435 die Metapher vom Bild als einem offenen Fenster (fenestra aperta) zur Welt postuliert hatte, ist das Fenstermotiv verknüpft mit einer an die Zentralperspektive gebundenen Illusionsmalerei, die die dreidimensionale Wirklichkeit der äußeren Welt auf die zweidimensionale Ebene des Bildträgers transferiert. Doch über seine abbildende Funktion hinaus verführen die Eigenschaften der Flächigkeit, Rahmung und rasterartigen Binnengliederung des Fensters ebenso wie Lichtdurchlässigkeit, Transparenz und Spiegelungsvermögen des Glases zum künstlerischen Experiment mit den Grenzen der Wahrnehmung und Erkenntnisfähigkeit. Das Bildthema erlaubt Reflektionen über die autochthonen Bedingungen der (Mal-)Kunst und den Prozess des Sehens selbst. Für die Künstlerinnen und Künstler wird das Fenstermotiv so zum Ausgangspunkt für die "Diagnose und Neuformulierung ihrer Bildvorstellung oder für die grundsätzliche Revision dessen, was ein Bild ist." (Müller-Schareck, 20)

Will man das Thema kunsthistorisch aufarbeiten, kommt man an den klassisch gewordenen Essays von Lorenz Eitner und Joseph Adolf Schmoll gen. Eisenwerth kaum vorbei, eine Grundlage für die Forschung bis heute. [3] Und so nimmt es auch nicht wunder, dass Kuratorin Sabine Rewald den Katalog des Metropolitan Museums dem 2009 gestorbenen Stanford-Professor Eitner widmet. In ihrer Einführung verzichtet sie auf "a weighy, in-depth treatise" zugunsten von "a few reflections that trace the common threads" (5), die immerhin von einer guten Auswahlbibliografie sowie einem Personen- und Sachregister abgerundet werden. Sie präsentiert hernach 41 Gemälde, 29 Zeichnungen und Aquarelle von über 40 Künstlern und Künstlerinnen aus Deutschland, Frankreich, Skandinavien, Russland, Österreich und Italien, die ganz überwiegend aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammen, sodass der Untertitel passender die Zeitangabe 1800-1850 führen müsste. Die Werke interpretieren die Übertragung der Welt ins Bild-Fenster "by embracing both the very close and the faraway" (VIII). Neben dem Dresdner Romantikerkreis um Caspar David Friedrich, Georg Friedrich Kersting, Carl Gustav Carus und Johann Christian Clausen Dahl sind in Rom arbeitende Künstler wie Franz Ludwig Catel, Jean Alaux und Léon Cogniet oder auch die französische Künstlerfamilie Drölling vertreten.

Der Schwerpunkt liegt auf Darstellungen, die in einer oft sehr eigenwilligen Synthese zwischen Interieur, Landschaft, Stillleben, Genre und Porträt mäandern und entsprechend dem Ausstellungstitel (in Anlehnung an Edward Morgan Forsters Roman "A Room with a View", 1908) "Rooms" oder "Views" zeigen. Die Wohninterieurs von Wilhelm Bendz, Fyodor Petrovich Tolstoi oder Georg Friedrich Kersting, der allein mit sieben Arbeiten vertreten ist, zeigen alltägliches Leben in lichtdurchfluteten Räumlichkeiten, oft belebt mit den Künstlern nahestehenden Personen. Diejenigen Räume, deren Fensteraussichten durch Jalousien, Vorhänge oder nächtliche Dunkelheit versperrt sind, wirken in der Darstellung umso phantasieanregender, je leerer sie sind. Menzels "Balkonzimmer" von 1845 als Paradebeispiel dieser Wirkung konnte leider nicht nach New York reisen, dafür sind An- und Aussichten seiner späteren Berliner Wohnungen zu sehen. Erfreulich ist, dass mit akribischer Spürnase auch entlegenere Werke aus Frankreich und Italien zu diesem eher in Nordeuropa prominenten Thema zugänglich gemacht wurden. Eine schöne Entdeckung ist "A Paris Interior" von ca. 1817 (Kat. 27) aus dem Wadsworth Atheneum Museum of Art eines anonymen französischen Künstlers (83). Sie zeigt eine Variation des Künstler(selbst-)bildnisses im Atelier. An dessen Stelle figuriert auf einem Stuhl eine sonnenbeschienene Uniform aus Napoleons Großer Armee, die zusammen mit Attributen des Militärs und der Malerei neugierig auf den Urheber dieses kuriosen Stilllebens machen.

Die "Views" gewähren im Gegensatz zu niederländischen Interieurs des 17. Jahrhunderts zumeist den frontalen Ausblick in eine (Stadt-)Landschaft. Als Ausgangspunkt für zahlreiche Neuinterpretationen gelten die zwei berühmten, in Wien aufbewahrten Sepiazeichnungen von Caspar David Friedrich, die 1805/06 in seiner Atelierwohnung am Dresdner Elbufer entstanden. Rewald weist zu Recht auf die farb- und lichttechnische Virtuosität der grau-braun lavierten Zeichnungen hin. "Working with it [Sepia] is a painstaking technique requiring experience and patience, which may explain why he waited three years before creating these cerebral meditations." (3) Friedrichs Invention machte das geöffnete Fenster zum Hauptmotiv des Bildes. Das Blatt mit dem rechten Atelierfenster rückt es in die Frontalansicht vor den Betrachter, sodass jener den Raum mit dem Maler zu teilen scheint. Für die später entstandene Zeichnung vom linken, in Schrägansicht wiedergegebenen Fenster des Atelierraums, veränderte Friedrich seinen Standpunkt (am Zeichentisch), rückte näher an die Fensterwand und nach rechts. [4] Die Programmatik der Pendants offenbart sich auf mehrfache Weise. Friedrich visualisiert eine explizit bifokale Ansicht seines Atelierraums, die durch Nebeneinanderlegen der beiden Blätter nicht zu einem kongruenten Raumkontinuum zusammenzufügen ist. Die kompositorische Parallelisierung des Fenstermotivs mit der Bildfläche in der Zeichnung vom rechten Fenster führt die Metapher der "fenestra aperta" durch Betonung von Ausschnitthaftigkeit sowie inner- und außerbildliche Verweise auf die Seh- und Erkenntnisfähigkeit als problematisch vor. Ein im Spiegel reflektiertes Augenporträt (Friedrichs), ein Bilderrahmen, eine Schere, das sich spiegelnde Kreuzzeichen auf dem geöffneten rechten Fensterflügel, ferner in der linken Zeichnung ein Schlüssel und ein auf dem Fensterbrett liegender Brief, zugestellt "Dem Herrn C. D. Friedrich in Dresden vor dem Pirnaischen Thor" sind eben nicht "purely for pictorial effect" eingefügt, wie Rewald bemerkt (117). Im Zusammenklang mit Georg Friedrich Kerstings Porträt von Friedrich im kargen Atelier 1811 (Kat. 24) sowie von Friedrichs Porträt seiner Frau im Atelier von 1822 (Kat. 7) kündigt sich hier, am Anfang des 19. Jahrhunderts, vielmehr ein verändertes künstlerisches Selbstverständnis an. Das Atelier wird zum Raum geistiger Produktionen. Die Bilder sind Ergebnisse eines erweiterten ästhetischen Form- und Bildfindungsprozesses, bei denen der mimetischen Funktion sowohl selbstreflexive Elemente und Verfahren als auch außerbildliche Bezugssysteme zur Seite gestellt werden.

Diese Selbstreflexivität der Bilder radikalisiert sich in der klassischen Moderne dann mit der Distanzierung und Verabschiedung vom zentralperspektivischen Raumkonzept Albertis. Der Düsseldorfer Ausstellungskatalog "Fresh Widow. Fensterbilder seit Matisse und Duchamp" beginnt daher mit einer Todesanzeige: "Am Anfang des 20. Jahrhunderts steht der Abschied vom Ausblick. In der Kunst ist das Fenster nicht mehr mit dem Sehnsuchtsmotiv der Romantik verbunden. Der Blick schweift nicht in die Ferne, sondern er kehrt, vom spiegelnden Fenster zurückgeworfen, zum Ort der Aussendung zurück [...] Das Fenster in der Kunst der Moderne ist endgültig verschlossen." (11) Als Totengräber und fröhliche Witwen werden Robert Delaunay, Henri Matisse, Marcel Duchamp und deren Werke entlarvt. Duchamps 1920/1964 entstandenes Objekt "Fresh Widow" steht dabei "wie eine Losung" (20) über einer Ausstellung, die das künstlerische Interesse an der Konstruktion von visuellen Schwellenräumen entlang von 17 ausgewählten Positionen untersucht.

In ihrem Eingangsbeitrag zeigt Kuratorin Maria Müller-Schareck "als Vorschlag für eine Sehweise" auf, dass die Fenstermotivik innerhalb der individuellen künstlerischen Entwicklung oftmals einen bedeutenden Wendepunkt markiert. Beispielhaft stehe hierfür Marcel Duchamp. Er demontierte den traditionellen Bildbegriff mit prophetischer Chuzpe, indem er (sich von) Malerei verabschiedete. Sein Fensterobjekt "Fresh Widow" repräsentiert nicht, sondern stellt sich, vergleichbar seinen Readymades, allein selbst zur Schau. Dafür benutzte er ein vorgefertigtes, verkleinertes Baumodell eines sogenannten französischen Fensters und beklebte anschließend die Glasscheiben mit schwarzem Leder. Der Durchblick in einen imaginären Bildraum wird verweigert, "um mit dem Schachzug einer ironischen Umkehrung das klassische Bildkonzept als Abbild der Welt infrage zu stellen" (84). Diese Verabschiedung proklamiert auch der Titel, der eine wortspielerische Abwandlung von "French Window" (französisches Fenster) ist. Mit subversivem Humor empfahl Duchamp, dass die opake Verkleidung eigentlich wie Schuhleder täglich spiegelblank poliert werden müsste, um gleichsam als Kompensation für die Aussichtslosigkeit eine Selbstbespiegelung des Betrachters zu ermöglichen, der sich "als das begehrende Ich und der eigentliche Entstehungsort des Kunstwerks" (87) erkennen soll. Dass dieses Verhältnis von Betrachter und Schaufenster allerdings einer "Liebesaffäre mit unglücklichem Ausgang" (Duchamp) gleich komme (30), machte nicht nur er, sondern später auch Christo mit der Werkgruppe seiner verhüllten "Show Windows" und "Store Fronts" (Kat. 36-40) deutlich.

Nach Rolf Selbmanns kulturhistorischer Fensterschau skizziert Elke Bippus in ihrem Überblicksessay "Konstruktionen von Sichtbarkeit" (49). Sie identifiziert diagrammatische Techniken und Verfahren der "Fenster-(Macher)". Dazu gehören die motivische Isolation sowie die Wahl medial anderer Repräsentationsformen, die sich "nicht auf die Polarisierung von gegenständlich abbildender und abstrakter Bildformulierung reduzieren" lassen (50), serielle und transformative Verfahrensweisen, material- und medienspezifische Re-Inventionen und schließlich fotografische, installative oder performative Projektionen, die den Betrachter aktivieren. Wünschenswert wäre hier noch ein Hinweis auf das vielfach praktizierte, selbstreflexive Verfahren der Mise en abyme gewesen. Die Wiederholung des Werks im Werk durch Spiegelung bei gleichzeitiger Brechung der Fiktion führt beispielsweise Gerhard Richter gleichsam bis an den Abgrund, indem er "7 stehende Scheiben" (Kat. 61) aus transparentem Floatglas hintereinander im Galerieraum staffelt. "Das Sichtbare verharrt in einer Selbstbezüglichkeit, mit der kein spezifisches Weltbild zum Ausdruck gebracht werden kann." [5] Die damit verbundene Kontingenzerfahrung des Betrachters und ihre nachfolgende ästhetische Bewältigung vollzieht Olafur Eliasson durch Reintegration. Seine ephemeren Licht-Installationen bezeichnet er als "Versuchsanordnungen" von Wahrnehmungsmodellen, bei denen er sich "besonders für das Verhältnis zwischen dem Individuum, dem Besucher und der umgebenden Situation" interessiere (Begleitheft zur Ausstellung, 19).

Totgesagte leben länger - das Verdienst der beiden Ausstellungskataloge ist, ein altbekanntes, bis heute virulentes Thema sinnlich und intellektuell ansprechend aufbereitet zu haben. Wollte man sie im direkten Vergleich bewerten, so überzeugt die Publikation aus dem Metropolitan Museum als Augenschmeichler mit ihren exzellenten ganzseitigen Abbildungen und der sorgfältigen ikonografischen Aufbereitung. Das Pendant aus der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen ist vom Hatje Canz Verlag gewohnt qualitätvoll umgesetzt. Das farbige Layout, das mit der Idee von Fläche und Rahmung, Öffnung und Durchblick spielt, lässt jedoch die Abbildungen in Relation zur Seitengröße oft zu klein erscheinen (z.B. 98-101, 155-162, 167, 219-223, 259, 263). Benutzerfreundlich sind hingegen Werkverzeichnis, Biografien und ausgewählte Künstler- und Themenliteratur. Die Veröffentlichung punktet insbesondere mit der Vielstimmigkeit ihrer Experten, die in ausführlichen monografischen Werkanalysen die vielfältigen thematischen Interferenzen von ästhetischem Interesse und Apperzeption des Fensterthemas im jeweiligen Œuvre verorten und so den unwiderlegbaren Beweis führen, dass die "anthropologische Grundkonstante" Fenster fest in der Gegenwartskunst verankert ist.


Anmerkungen:

[1] Rolf Selbmann: Eine Kulturgeschichte des Fensters von der Antike bis zur Moderne, Berlin 2010, 12; ders.: Ausblicke, Einblicke, Durchblicke. Eine kleine Geschichte des Fensters bis zur Moderne, in: Müller-Schareck 2012, 36-45, hier 36.

[2] Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth: Fensterbilder. Motivketten in der europäischen Malerei, in: Beiträge zur Motivkunde des 19. Jahrhunderts, hg. von Ludwig Grote, München 1970, 13-165, hier 152.

[3] Lorenz Eitner: The Open Window and the Storm-Tossed Boat. An Essay in the Iconography of Romanticism, in: The Art Bulletin 37 (1955), 4, 281-290.

[4] Selbmann und Müller-Schareck nehmen im Düsseldorfer Katalog an, dass das linke Atelierfenster "die perspektivisch verschobene Sicht bei beibehaltenem Standpunkt des Malers wiedergibt", 22, 43. Dies kann durch die, auch mathematische, Analyse von Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, 11-33, 190f. als widerlegt gelten; ebenso Oliver Kase: Offene und geschlossene Fenster - Mimesis-Korrekturen im Atelierbild 1806-1836, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 69 (2006), 217-250.

[5] Hubertus Butin: Gerhard Richter und die Reflexion der Bilder, in: Gerhard Richter. Editionen 1965-2004, hg. von ders. / Stefan Gronert, Ostfildern 2004, 9-83, hier 19.

Heike Herber-Fries