Hans-Werner Hahn / Marko Kreutzmann (Hgg.): Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, VIII + 310 S., ISBN 978-3-412-20835-6, EUR 39,90
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Dieser Tagungsband fügt sich ein in die Neubewertung der deutschen Nationalgeschichte im 19. Jahrhundert, die seit längerem unspektakulär im Gange ist. Die "Zollvereinslegende" (13), die ökonomisch und politisch eine gerade Linie zur Reichsgründung zieht, ist zwar längst widerlegt, wie die Herausgeber in ihrer differenzierten Einleitung anhand eines ausführlichen Forschungsberichts darlegen, doch wie der Zollverein zur kulturellen Nationsbildung beitrug, ist erst ansatzweise erforscht. Dieser Band leistet dazu einen gewichtigen Beitrag. Die "wirtschaftlich definierte Nation" (8) wird nicht in Wirtschaftsdaten aufgesucht, wie es Katzenstein in seiner bis heute nicht überholten Pionierstudie getan hatte [1], sondern es wird vornehmlich nach Einstellungen und Wahrnehmungen gefragt, die in der Öffentlichkeit (Publikationsmedien), in parlamentarischen Debatten und vor allem an den Akteuren in staatlichen Institutionen zu erkennen sind.
Die zollpolitischen Zusammenschlüsse waren nicht nationalpolitisch motiviert, wie Thomas Stamm-Kuhlmann nochmals für die preußischen Handlungsmotive in der Gründungsphase betont. Doch seit den 1840er Jahren sah man im liberalen Bürgertum zunehmend den Zollverein als "organisatorische Grundlage einer gesamtnationalen Verfassungsgebung" (Hahn, 173). Andreas Etges verfolgt dies und die Reformforderungen, die damit verbunden waren, anhand der Debatten im Umfeld der Nationalbewegung. [2] Die ständigen Konflikte um den Zollverein stärkten letztlich seine politische Integrationskraft. Das zeigt Oliver Werner an dem kurzlebigen Mitteldeutschen Handelsverein, der zu einer "Aufwertung mittel- und kleinstaatlicher Interessen auf der Bundesebene" (93) beigetragen habe. Heinrich Best analysiert, anknüpfend an seine bekannten Studien dazu, die national integrierende Wirkung, die von der Massenmobilisierung der Schutzzollkonflikte ausging, während Rudolf Boch sein Werk über die Industrialisierungsdebatte im rheinischen Bürgertum aufnehmend die "Integration regionaler politischer Eliten" (149) durch den Zollverein hervorhebt.
Die wirtschaftlichen Erfolge, die der Zollverein allen Mitgliedsstaaten ermöglichte, stärkten nicht nur die wirtschaftspolitische Position Preußens, sondern werteten auch seine nationalpolitische Rolle auf. Henning Kästner belegt dies an den parlamentarischen Debatten in Sachsen-Weimar-Eisenach, und Angelika Schuster-Fox spricht in ihrer Studie zu Bayern sogar vom "Ende jeglicher eigenständiger und unabhängiger Wirtschaftspolitik" (73), die sie vom Zollvereinsvertrag des Jahres 1865 ausgehen sieht.
Kulturelle Nationsbildung - dieses Konzept, das dem Band zugrunde liegt, neigt dazu, sich in "Diskurse" zu verflüchtigen, deren Wirksamkeit schwer einzuschätzen ist, wenn diejenigen, die diskutieren, nicht bestimmten Handlungseinheiten zugeordnet werden können. Hier leistet Marko Kreutzmann einen innovativen Beitrag, indem er die höheren Verwaltungsbeamten des Zollvereins (insgesamt 244 von 1834 bis 1871) als eine Funktionselite sichtbar macht und nach deren nationalpolitischen Einstellungen fragt. [3] Nach der 48er Revolution lasse sich bei ihnen eine "Nationalisierung ihrer Denk- und Handlungsmuster" (217) feststellen, ohne dass sie jedoch einheitliche Konzeption in den nationalpolitischen Konflikten eingenommen hätten. Nach 1871 wurden sie zwar von Linksliberalen zu einer "wirtschaftlich-liberalen Umdeutung der Reichsgründung" (223) genutzt, doch dies ordnet Kreutzmann dem "linksliberalen Nationalmythos" als Gegenentwurf zur "militärisch-obrigkeitsstaatlichen Traditionsbildung" zu (226).
Der Schlussteil des Bandes versammelt drei Beiträge, die einen relativierenden Blick auf den Zollverein erlauben. Wie er und die deutsche Nation von britischen Diplomaten eingeschätzt wurden, untersucht Markus Mößlang. [4] Sie bewerteten ihn positiv, ordneten ihn aber Themenfeldern zu, die aus britischer Sicht vorrangig erschienen. Seine "politisch-kulturelle Integrationskraft" (253) gehörte nicht oder nur am Rande dazu. Charakteristisch ist die Einschätzung durch den Gesandten in München, die er Ende 1846 an Lord Palmerston sandte: "To my mind 'German Unity' [...] is an impracticable Chimera" (239). Und noch in den 1860er Jahren waren sie sich uneins, wie die preußische Politik in den Zollvereinsstaaten aufgenommen werde.
Mit einer starken These wartet Thomas J. Hagen auf: Der Wiener Mitteleuropapolitik sei es gelungen, "bis in die 1860er Jahre einen viel umfassenderen Wirtschafts- und Verkehrsraum zu schaffen oder anzubahnen" (281), als dies üblicherweise gesehen wird. Er begründet seine Deutung, die im "Entstehen eines gemeinsamen mitteleuropäischen Wirtschaftskörpers" eine "Alternative zum kleindeutschen Zollverein" (261f.) sieht, mit der Vielzahl von Verträgen, die das Gebiet Österreichs einschlossen. Dazu gehörten u.a. das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch, Verträge zur Vereinheitlichung von Münzen, Gewichtsmaßen und des Passwesens oder die Postunion. Darin erkennt er ein umfassendes Mitteleuropaprojekt, für das die österreichische Regierung in der Augsburger "Allgemeinen Zeitung" einen einflussreichen Fürsprecher gefunden hat. Die Dissertation, die Hagen dazu vorbereitet, lässt weitere Aufschlüsse erwarten. Dass ein Teil der Verträge, die er als Eckpfeiler einer erfolgreichen Mitteleuropapolitik Österreichs vorstellte, auch in einen anderen Zusammenhang eingeordnet werden können, zeigt Jürgen Müller in seinem Beitrag "Der Deutsche Bund und die ökonomische Nationsbildung". Er weist sie den "wirtschaftspolitischen Integrationsprojekten des Bundes" (297) zu. Müller hat in seinen Studien die bedeutende Rolle des Deutschen Bundes bei der inneren Nationsbildung neu bewertet. In diesem Band zum Zollverein zeigt er, wie wenig bisher der Bund als ordnungspolitischer Akteur im Prozess der wirtschaftspolitischen und -rechtlichen Integration Deutschlands vor 1871 gewürdigt worden ist und wo angesetzt werden müsste. Es sind nicht zuletzt diese Beiträge über konkurrierende Akteure und Konzeptionen, die zeigen, wie ertragreich es sein wird, wenn es um eine umfassende neue nationalpolitische Einschätzung des Zollvereins geht.
Anmerkungen:
[1] Peter J. Katzenstein: Disjoined Partners. Austria and Germany since 1815, Berkeley 1976.
[2] Grundlegend dazu Etges: Wirtschaftsnationalismus. USA und Deutschland im Vergleich (1815-1914), Frankfurt/M 1999, Kap. 2.
[3] Das Erscheinen seiner Jenaer Dissertation zu diesem Thema ist für Oktober 2012 angekündigt.
[4] Seine weiteren Studien dazu, einschließlich der noch unabgeschlossenen Edition britischer Gesandtenberichte aus Deutschland, werden aufgeführt unter: http://www.ghil.ac.uk/staff/moesslang.html (eingesehen 8.10.2012).
Dieter Langewiesche