Geneviève Massard-Guilbaud / Richard Rodger (eds.): Environmental and Social Justice in the City. Historical Perspectives, Cambridge: White Horse Press 2011, XIV + 286 S., ISBN 978-1-874267-61-4, GBP 6,00
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Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit im Zugang zu natürlichen Ressourcen, in der Verteilung von Umweltrisiken oder der Exposition gegenüber Immissionen sind ein zentrales, aber noch zu wenig systematisch erforschtes Themengebiet der urbanen Umweltgeschichte. In ihrer lesenswerten Einführung in Thema, Konzeptgeschichte und Forschungsstand zu Umwelt(un)gleichheit (Environmental Equality) und Umweltgerechtigkeit (Environmental Justice) adressieren die Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes zwei zentrale Motive ihrer Publikation: Zum einen kontrastiere die Konjunktur des Themas in Soziologie, Geografie, Politik- und Rechtswissenschaften mit dessen relativer Vernachlässigung in der historischen Forschung. Dem gelte es dadurch abzuhelfen, dass ein Einblick in den - gerade in Europa - noch überschaubaren Forschungsstand gegeben werde. Die zweite Herausforderung bestehe im perspektivischen Brückenbau zwischen der sozialen und der ökologischen Dimension gesellschaftlicher Ungleichheiten. Dabei gelte es eine Trennung dieser beiden Perspektiven zu überwinden, die nicht in der Sache begründet liege, sondern die sich vor allem im Zuge der Karriere von Umweltbewusstsein und organisierter Umweltbewegung während des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts verfestigt habe.
Der Band gliedert sich in fünf thematische Schwerpunkte: Konstruktion von Ungerechtigkeit, Risikomanagement, Wasserbezogene Ungleichheiten, Abfall und Ungleichheiten sowie Energie und Industrie. Während die meisten Beiträge das 19. und 20. Jahrhundert, mithin im weitesten Sinne industrialisierungs- und urbanisierungsbezogene Problemlagen in den Blick nehmen, stellen gerade die Untersuchungen längerer Zeiträume den Wert einer Langzeitperspektive für die Analyse der historischen Dynamik von Umweltungleichheit unter Beweis. Dies gilt für Tim Soens, der über einen Zeitraum von siebenhundert Jahren hinweg die soziale Verteilung von Überschwemmungsrisiken in einer südenglischen und zwei niederländischen Küstenregionen untersucht. Im Kontext der Kommerzialisierung der Landwirtschaft und der veränderten Besitzverhältnisse - hin zu großen, nicht vor Ort präsenten Grundeigentümern - kam es zu einer Konzentration der Überflutungsrisiken bei der örtlichen Landbevölkerung. Diese nicht nur ungerechte, sondern letztlich auch wirtschaftlich nicht nachhaltige Lastenverteilung wurde erst dann korrigiert, als deren ökonomische Folgen bis zu den urbanen Landbesitzern durchschlugen. Auch Richard Orams Studie zum hoch aktuellen Problem sozialer Gerechtigkeit und sozialer Ungleichheit im Zugang zu Energie profitiert von einer Langzeitperspektive. Oram zeigt den Zugriff städtischer Bevölkerung auf Brennstoffe in Schottland als eine komplexe, vielfältig von sozioökonomischem, klimatischem und kulturellem Wandel geprägte Problemlage. Diese verschärfte sich seit dem 16. Jahrhundert mit dem demografischen Wachstum der Städte, der Erschöpfung von Holzvorräten und den immer stärker eingeschränkten kollektiven Nutzungsrechten an Torfvorkommen. Kohle als vor der Eisenbahnanbindung für die Bevölkerungsmehrheit prohibitiv teurer Luxusbrennstoff trug lange Zeit nicht zur Lösung des sozialen Problems der Energieversorgung bei.
Umweltungleichheit wird beinahe in allen Beiträgen als gesellschaftlich konstruiert sichtbar, einige leisten eine besonders präzise Autopsie der an dieser konstruktiven Arbeit beteiligten Akteursgruppen - nicht selten bürgerliche Mittel- und Oberschichten. So beleuchten Christopher Boone und Geoffrey L. Buckley die Verschränkung zwischen der Lobbyarbeit so genannter Stadtviertel-Verbesserungs-Vereinigungen (Neighbourhood Associations) und der kommunalpolitisch forcierten sozialen und rassischen Segregation im Baltimore des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Im Ergebnis bewirkte die gemeinsame Politik bürgerlicher - weißer - Lobbygruppen und der Kommune nicht nur einen faktischen Ausschluss sozial unerwünschter - meist schwarzer - Bevölkerungsgruppen aus den jeweiligen Vierteln, sondern gleichzeitig eine Konzentration von kommunalen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse (Pflanzung von Straßenbäumen, Anlage von Parks und Spielplätzen) in ebenjenen Vierteln. Jonas Hallström untersucht Hindernisse der Anbindung rasch wachsender Arbeitervororte der schwedischen Städte Norköpping und Linköpping an die urbanen Leitungsnetze der Trinkwasserversorgung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Hallström zitiert Planungsunterlagen, in denen von den Vororten als "Unkraut" die Rede ist, dessen Wachstum nicht durch Wasserzufuhr gefördert werden sollte. Verantwortliche eines der betroffenen Vororte sahen diesen als "Sammelbecken der niedrigsten und übelsten Elemente" (142) der Stadt. Aus dieser biologischen Bildlichkeit wird deutlich, wie sehr ideologisch fermentierte bürgerliche Alteritätswahrnehmung jenseits aller materiellen Bedingungen einer Verfestigung sozial ungleicher Lebensbedingungen Vorschub leistete. Eine explizite planerische Berücksichtigung der "environmental justice", so der Hinweis Craig Coltens in seinem Beitrag zum Umgang mit Wirbelsturm- und Flutrisiken in New Orleans, unterblieb dort trotz der Vorgaben eines US-Bundesgesetzes aus dem Jahre 1994 noch nach Hurrikan Kathrina.
Der Sammelband zeigt Umwelt(un)gleichheit und Umweltgerechtigkeit auch als Phänomene, die einer Betrachtung auf unterschiedlichen Skalenebenen bedürfen. In der Textilindustrie Neu Englands waren die Belastungen am Mikrokosmos Arbeitsplatz, wie Janett Greenless im Vergleich dreier Städte zeigt, von lokalen Unterschieden in der Einflusstiefe öffentlicher Debatten, in der kommunalen Regulierung und im unternehmerischen Kalkül abhängig. An anderer Stelle, bei der Hygienisierung von Großstädten, gesellt sich zu dem innerhalb der Stadtbevölkerung virulenten Problem der Kosten der Errichtung einer "egalitäre[n] Kultur der Wasserver- und Entsorgung" (167), so Christoph Bernhardt zum Beispiel Berlin, ein immer großflächigerer Fußabdruck der Stadt im Umland, sowohl was die Entnahme von Wasser, als auch was die Entsorgung von Abwasser - u. a. auf Rieselfeldern - betrifft. Auf dieser räumlichen Skalenebene betrachtet, ergibt sich eine wachsende Umweltungleichheit zwischen Stadt und Hinterland.
Der gelungene Sammelband skizziert Umweltgleichheit und Umweltgerechtigkeit nicht nur als umwelthistorisches Desiderat. Er belegt auch - man denke an Joanna Deans methodisch von der Landschaftsökologie übernommene Auswertung von Luftbildern - die besondere Eignung umwelthistorischer Interdisziplinarität für dessen Bearbeitung.
Martin Knoll