Wouter J. Hanegraaff: Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge: Cambridge University Press 2012, X + 468 S., ISBN 978-0-521-19621-5, GBP 65,00
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Es ist nicht unbedingt das herausragende Kennzeichen wissenschaftlicher Literatur, gut lesbar zu sein. Umso erfreulicher ist es, wenn man von einer Arbeit sagen kann, dass sich das intellektuelle Vergnügen mit dem Lesevergnügen verbindet. Wouter J. Hanegraaff, Inhaber des Amsterdamer Lehrstuhls für Esoterikforschung, hat das Kunststück vollbracht, beide Qualitäten miteinander zu vereinen, ohne der Versuchung zu erliegen, dies mit Hilfe derjenigen Effekte zu tun, wie sie der Gegenstand anbietet, und wie sie nur zu oft immer noch mit Titeln zum Schlagwort 'Esoterik' verbunden sind. Wer nach der Faszination des Okkulten sucht, ist hier falsch. Wer in einer spannenden Darstellung über neueste Forschung zum Thema informiert werden will, liegt mit dieser Lektüre richtig.
Der Autor unternimmt es, die Geschichte des 'Western Esotericism' als Entwicklungsgeschichte eines intellektuellen Konzepts zu schreiben: "to write the history of how scholars and intellectuals have imagined it" (3). Grundlage dafür war die Imagination eines spezifischen Wissens, nicht die nebelhafte Weisheit uralter Zeiten, sondern eine textlich fassbare und historisch datierbare gelehrte Meistererzählung, die 'Ancient wisdom narrative' der Renaissance, in der zahlreiche Autoren des 15. und 16. Jahrhunderts damals bekannte Texte der heidnischen Antike rezipierten.
Das erste der vier Kapitel des Bandes befasst sich mit diesem Rezeptionsprozess am Beginn der Neuzeit. Es ging in der Sicht dieser Zeit um die Rückgewinnung dreier 'großer Weisheitsformen', der ägyptischen Weisheit des Hermes Trismegistos, der chaldäisch-persischen Weisheit des Zoroaster und der kabbalistischen Weisheit des Mose (192). Schon dies lässt die Überlagerung christlicher, jüdischer und paganer Elemente im Kontext einer Theorie erkennen, die die christliche Offenbarung durch das Wissen der Heiden und der Juden ergänzen wollte. Auf der Basis dieser Lehre - Hanegraaff versteht sie als 'Platonic Orientalism' entsteht in der Begriffssprache der Zeit die "Prisca theologia" oder "Philosophia perennis" (7-12), das Gründungskonzept der Esoterik. Grundlage ist das Esoterische (Text-) Korpus in seiner Ursprungsfassung.
Besonders interessant ist in dieser Darstellung die große Betonung der Rolle der antiken Kirchenväterliteratur, die mit ihrer Hellenisierung des Christentums den Formationsprozess der Esoterik in der Renaissance genauso bestimmte wie die genuin heidnischen (meist neuplatonischen) Quellen. Der Autor sieht in dieser patristischen Absicherung den Grund dafür, dass die Philosophia perennis nur unter geringem Verfolgungsdruck seitens der Römischen Kirche gestanden habe.
Im Protestantismus, der die Heilige Schrift gegenüber ihrer theologischen Auslegung privilegierte, musste sich das ändern. Auf der Basis der Forschungen von Sicco Lehmann-Brauns [1] zeigt Hanegraaff im zweiten Kapitel, wie Vertreter der lutherischen Orthodoxie in der Esoterik ihrer Zeit nun nur noch den Paganismus sehen und an den literarischen Pranger stellen: Jacob Thomasius (1665) und Ehregott Daniel Colberg (1690/91), um nur die wichtigsten zu nennen. So werde die Alte Weisheit zu 'Rejected Knowledge'. Diese Analyse kulminiert in einer ebenso originellen wie überraschenden Wendung. Indem Colberg in seinem "Platonisch-Hermetischen Christentum" die Philosophia perennis entlarven will, führt er sie mit einer bisher unbekannten Systematik und Vollständigkeit vor und präsentiert sie als religiöses Feld mit eigener Identität. Das tut er auf der Basis der systematischen Vorarbeit von Thomasius, der den Glauben an die Ewigkeit der Welt als verbindendes Element der verschiedenen einschlägigen Strömungen herausgearbeitet hatte. So lautet eine der beiden zentralen Thesen dieser Arbeit: Esoterikforschung entsteht erstmals am Ende des 17. Jahrhunderts. Dass dies aus kämpferisch-gegnerischer Sicht geschah, ändert nach Hanegraaff nichts an der bahnbrechenden Bedeutung dieser Literatur, die den Bezug zum Mythischen aufgab zugunsten einer konsequent historisch-kritisch verfahrenden Analysemethode.
Die zweite zentrale These schließt sich unmittelbar an: Sie thematisiert den Übergang zur Aufklärung, die wichtige Übergangsfigur ist Christoph August Heumann mit seinen 'Acta Philosophorum' (1715-27). Für Heumann ist die 'Ancient-wisdom-narrative' kein ernstzunehmender Gegner mehr, ihr fehlt jede geistige Kapazität. Was schlichtweg dumm und vernunftlos ist, muss aber nicht mehr untersucht werden (137-147). Damit verschwand die Philosophia perennis im Verlauf der Aufklärung zunehmend aus den Philosophiegeschichten und aus den Kirchengeschichten. Sie wurde im Rahmen des Vorurteilsdiskurses abqualifiziert und landete im Mülleimer der Geschichte (128).
Erst die Romantik, so Hanegraaff, nimmt das verdrängte Wissen unter völlig neuen und anderen konzeptionellen Grundlagen wieder auf und entwickelt die Vorstellung der geheimen Gegenkultur eines zutiefst mythischen Denkens. Aus dieser Wende - so beschreibt es das vierte und letzte Kapitel in einem fulminanten Überblick - entsteht die Esoterikforschung der Esoteriker oder 'Religionisten', wie sie Hanegraaff dann vor allem an Figuren des 20. Jahrhunderts und mit dem Blick auf den Eranoskreis im schweizerischen Ascona [2] entwickelt. Die Pointe dieser Darstellung ist die deutliche Absage des Autors an diesen zweiten Take-off von Esoterikforschung (259), der von einer bemerkenswerten Zahl einflussreicher Universitätsprofessoren getragen war (erwähnt seien nur der Religionshistoriker Mircea Eliade und der Islamwissenschaftler Henry Corbin). Esoterikforschung heute, so der Autor, habe eben nicht die Aufgabe, esoterisches Wissen zu verteidigen oder anzugreifen - "but to ensure that the currents to which these labels refer are recognized as significant historical factors in the development of Western culture" (152). Der qualitative Sprung zu einer so konzipierten wissenschaftlichen Esoterikforschung beginnt um 1990 mit Antoine Faivre, zunächst selbst ein 'Religionist', dessen Werdegang Hanegraaff auf der Basis bisher unbekannten Quellenmaterials eingehend analysiert.
Gute Bücher wecken viele Fragen. Wie kommen wir von hier aus auf diesem Forschungsfeld weiter? Die Rezensentin sieht zwei Probleme, an denen zu arbeiten ist: Nach der Bedeutung orthodox-protestantischer Grundlagenwerke sollte nun auch die Rolle der Kirche im 15. Jahrhundert und der katholischen Konfessionalisierung für das gelehrte Verständnis von Esoterik untersucht werden. Der Hinweis auf die Kirchenväterliteratur und ihre Wirkung ist wichtig, aber ist er ausreichend? Die Szenerie könnte komplexer sein. Und zweitens wäre die Wirkung der Aufklärung zu hinterfragen, vor allem, weil das hier zugrunde gelegte Aufklärungsverständnis sehr statisch-geschlossen anmutet, und mehr vom modern-medialen Bild dieser Bewegung getragen ist, als von den uneindeutigen Verhältnissen im 18. Jahrhundert. Vor allem aber: Wie weit trägt der Ausschließungsdiskurs (Rejected knowledge) als Grundansatz von Esoterikforschung? Soll und kann er das Ganze umfassen, oder steht er als eine Sichtweise neben anderen? [3]
Nach zwei Jahrzehnten moderner Esoterikforschung ist dieses Buch trotz solch kritischer Nachfragen die mit Abstand beste Überblicksarbeit. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass sie sich zum Standardwerk entwickeln wird. Wahrscheinlich wird sie das auch lange bleiben, denn es wird angesichts der Komplexität der Einzelthemen und der inzwischen vielfältigen Forschungsliteratur für einen einzelnen Autor immer schwerer, noch das Gesamtfeld zu überblicken. Hier wurden jedenfalls Maßstäbe dafür gesetzt, wie das auch in Zukunft zu geschehen hat.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Sicco Lehmann-Brauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung, Tübingen 2004. Hanegraaff selbst weist darauf hin, wie viel er dieser Arbeit verdankt.
[2] Grundlegend Hans Thomas Hakl: Der verborgene Geist von Eranos. Unbekannte Begegnungen von Wissenschaft und Esoterik. Eine alternative Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bretten 2001.
[3] Dazu schon Michael Bergunder: Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung, in: Aufklärung und Esoterik. Rezeption - Integration - Konfrontation, hg. v. Monika Neugebauer-Wölk, Tübingen 2008, 477-507, hier 488.
Monika Neugebauer-Wölk