Anne Mézin / Vladislav Rjéoutski: Les Français en Russie au siècle des Lumières. Dictionnaire des Français, Suisses, Wallons et autres francophones en Russie de Pierre le Grand à Paul Ier (= Publications du Centre International d'Étude du XVIIIe Siècle), Ferney-Voltaire: Centre International d'Étude du XVIIIe Siècle 2011, 2 Bde., 1424 S., ISBN 978-2-84559-035-9, EUR 160,00
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Matthias Asche / Michael Herrmann / Anton Schindling u.a. (Hgg.): Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2008
Mehrsprachigkeit und Multikulturalität bzw. Kulturkontakt und -transfer, dies hat die historische Forschung in den letzten zwanzig Jahren deutlich gemacht, waren auch in Mittelalter und Früher Neuzeit kein Rand- bzw. reines Elitephänomen. In Kulturräumen wie dem lothringisch-elsässisch-eidgenössisch-südwestdeutschen, dem englisch-irisch-schottischen, dem Habsburgerreich oder dem polnisch-russisch-deutschen, um nur einige wenige zu nennen, waren Kulturkontakte und symmetrische bzw. asymmetrische Mehrsprachigkeit Alltagsphänomene, die unterschiedlichste soziale Schichten erfassten.
Auch im Russland des 18. Jahrhunderts waren Formen von Mehrsprachigkeit und Kulturkontakt "Normalität". Im expandierenden Russischen Reich wurden neben Russisch, Deutsch, Polnisch, Französisch, Jiddisch auch zahlreiche nicht-indogermanische Sprachen gesprochen. Gruppen von "Kolonisten" wurden angeworben, nicht nur um Teile Russlands zu peuplieren, sondern auch um Wirtschaft, Gewerbe und Kultur entwickeln zu helfen.
Anne Mézin und Vladislav Rjéoutski widmen sich in dem von ihnen herausgegebenen Doppelband den Franzosen im Russland der Aufklärungszeit. Zusammen mit einem russisch-französischen Team von dreißig Autoren präsentieren Mézin und Rjéoutski ein biographisches Lexikon, eine Prosopographie, die Präsenz, Tätigkeiten und Einfluss von Franzosen im Russischen Reich des 18. Jahrhunderts beschreibt. Es geht vor allem um den Einfluss Frankreichs auf die russische Kultur, d.h. auf Architektur, Malerei, Musik, Theater, Bildungswesen, Handel und Konsumgüter, Diplomatie und Militärkunst und höfische bzw. adlige Kultur.
Band 1 enthält neben einer Reihe von Karten und Stadtplänen eine Einführung ins Russland des 18. Jahrhunderts mit einem besonderen Fokus auf der Frage, wann, warum und unter welchen Bedingungen Franzosen ins Russische Reich einwanderten. In den Anhängen zu Band 1 findet der Leser eine Reihe von äußerst nützlichen Listen wie die der französischen Kriegsgefangenen von Danzig (1734), die der französischen Kolonisten im Russland des Jahres 1764, der französischen Einwohner im Moskau im Jahr 1777 oder französischer Kapitäne von russischen Handelsschiffen. Von besonderem Interesse für wirtschafts-, sozial- oder kulturgeschichtliche Fragestellungen, v.a. diejenigen, die sich mit transnationalen bzw. globalen Phänomenen beschäftigen, sind die für das Lexikon benutzten Quellen, die Sekundärliteratur und das Répertoire socio-professionel, das einen faszinierenden Einblick in die Berufsgruppen bzw. sozialen Schichten gibt, die in Russland im 18. Jahrhundert als so genannten französische "Kolonisten" tätig waren. Ebenso kann der Leser auch mit Hilfe der Lieux de naissance ou de provenance nach der regionalen Herkunft der so genannten "Franzosen" suchen.
Band 2 enthält dann die Biographien der von den Herausgebern und ihrem Team identifizierten "Franzosen" im Russland des 18. Jahrhundert, die Herkunft, Karrieren, Werke und Genealogien nicht nur der Individuen, sondern - soweit möglich - ihrer Familien auch über das 18. Jahrhundert in den Blick nehmen. Kontakte mit der russischen Bevölkerung, Mischehen, die Analyse von Testamenten, Inventaren und Ähnlichem wurden zurande gezogen, um Aussagen über Integration und Assimilierung dieser Franzosen in Russland treffen zu können. Besonders wertvoll sind hier die Querverweise zu anderen Personen bzw. Biographien und der Hinweis auf die benutzten Primärquellen.
Auch wenn Integrationsprozesse bzw. die "Ethnopsychologie" (XX) der französischen Immigranten in Russland durchaus in den vorliegenden Bänden eine Rolle spielen, so bleibt der Kulturtransfer durch die Struktur der Einträge doch als "Einbahnstraße" beschrieben. Die in postkolonialen Studien so wichtig gewordenen Fragen nach den Veränderungen, die Agenten des Kulturtransfers zurück in ihr Herkunftsland brachten, die Veränderungen, die die "importierte Kultur" in Russland selbst erfuhr, d.h. Reziprozität und Hybridisierungsphänomene werden wenig ausgeleuchtet.
Trotz dieser Kritik sind die vorliegenden Bände als Nachschlagewerk sowohl für Kunsthistoriker, Musikologen, Historiker, Literaturwissenschaftler, Erziehungswissenschaftler, Architekten, Genealogen und viele andere Disziplinen mehr als geeignet, da sie wertvolle Details zu Biographie, Werk, Familie und Bedeutung französischer Maler, Musiker, Architekten Erzieher, Militärs und vielen anderen sozialen bzw. Berufsgruppen nicht nur für den russischen Kontext liefern, sondern für die Zeit der Aufklärung in Europa schlechthin. Nicht nur Kulturwissenschaftler im weitesten Sinne, sondern auch Wirtschafts- und Sozialhistoriker werden mit diesem Lexikon eine Materialsammlung zur Verfügung haben, die mühsame Recherchen für Netzwerkanalysen, transnationale Kooperationen und frühe Prozesse der Globalisierung erleichtern wird. Welche Recherchen und welche Koordinationsarbeit hinter einem solchen Lexikon bzw. einer Prosopographie dieses Ausmaßes steckt, kann der Laie nur vermuten.
Susanne Lachenicht