Lauren J. Apfel: The Advent of Pluralism. Diversity and Conflict in the Age of Sophocles (= Oxford Classical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2011, XVI + 380 S., ISBN 978-0-19-960062-5, GBP 74,00
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Die Vorstellung, dass menschliche Gesellschaften ebenso wie Einzelmenschen vielfältig und vielgestaltig seien, ist modern. Maßgeblich entwickelt wurde sie von liberalen politischen Denkerinnen und Denkern, die Pluralität und Pluralismus als Gegenentwurf zum monistischen Totalitarismus faschistisch-nationalsozialistischer und sozialistischer Prägung verstanden. Die Wurzeln dieser grundlegenden Dichotomie von Vielfalt und Einheit reichen allerdings weit in die Antike zurück: Karl R. Popper betrachtete Platon als ersten 'Feind der offenen Gesellschaft' und damit als Vorläufer Marx', Stalins und Hitlers. [1]
Die auf Platon zurückgeführte "hegemony in Western theory of pluralism's great rival, monism" (1) ist denn auch Ausgangsbasis von Lauren J. Apfels ideengeschichtlicher Studie. Ihr zufolge war dem platonischen Monismus ein erstes, aufgrund von Platons nachhaltiger geistesgeschichtlicher Wirkung jedoch weitgehend in Vergessenheit geratenes "age of pluralism" (vii) vorausgegangen. Zahlreiche Denker des 5. Jahrhunderts v. Chr. hätten nicht nur die grundlegende Vielfalt der Menschen, Kulturen, Werte sowie der Wahrheit selbst reflektiert; sie seien sich auch darüber im Klaren gewesen, "that irresolvable conflict is an unexcisable element of humanity" (vii). Diese Konflikthaltigkeit ist für Apfel, im Anschluss an Isaiah Berlin [2], der zentrale Bestandteil ihres Pluralismuskonzepts: Weil Werte plural sind, lassen sie sich weder auf einen einzelnen 'Grundwert' engführen noch in eine verbindliche Hierarchie bringen, sie stehen also miteinander in Konflikt. Daraus folgt Apfel zufolge zwar nicht, dass alle Werte relativ seien; vielmehr sei es möglich und sogar notwendig, auf rationaler Basis zwischen Werten und Handlungsoptionen abzuwägen und zu entscheiden. Doch die Inkommensurabilität der Werte führe dazu, dass solche Entscheidungen immer mit Verlusten verbunden seien: Wer für einen bestimmten Wert optiere, schließe damit notwendig andere Werte aus (vgl. 8-23).
Apfel ist sich bewusst, dass diese Vorstellungen im antiken Griechenland nicht unter einen einheitlichen Begriff gefasst wurden; 'Pluralismus' ist eine neuzeitliche Wortschöpfung (3-5). Dem Vorwurf des Anachronismus begegnet sie jedoch überzeugend mit dem Argument, dass es weniger auf einzelne Worte als auf Wertvorstellungen, Einstellungen und Handlungen ankomme. Folgerichtig verzichtet Apfel auf eine lexikographische Durchforstung großer und disparater Textmengen auf bestimmte Begriffe hin und widmet sich stattdessen der detaillierten Einzelanalyse dreier Denker, die sie als zentrale Vertreter pluralistischen Denkens im 5. Jh. identifiziert: dem Sophisten Protagoras (43-112), dem Historiker Herodot (113-206) und dem Dramatiker Sophokles (207-348).
Im Zentrum von Apfels Protagorasinterpretation stehen die klassischen Referenztexte - der Homo-Mensura-Satz, die Behauptung, es gäbe zu jedem Sachverhalt zwei einander widersprechende Reden, sowie Protagoras' Kulturentstehungsmythos aus Platons gleichnamigem Dialog. Gegen Platon und Aristoteles, aber in Übereinstimmung mit Sextus Empiricus und der Mehrzahl der modernen Interpreten fasst sie die berühmte These, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, als pluralistisch auf. Hierzu verwirft sie zunächst die subjektivistische Interpretation, wonach alles wahr ist, woran jeder Einzelne glaubt, und die relativistische, wonach alles in Bezug auf denjenigen wahr ist, der daran glaubt (57-61). Apfels pluralistischer Interpretation zufolge existiert ebenfalls nicht die eine, einheitliche Wahrheit, doch im Unterschied zu den beiden anderen Deutungen sind hier Konflikte zwischen den multiplen, einander widersprechenden Wahrheiten möglich und können durch "weighing the options in the most intelligent and informed way possible" (65) zwar nicht abschließend aufgelöst, aber besser oder schlechter entschieden werden. Dem korrespondiere auch Protagoras' Diktum, wonach es zu jeder Sache zwei entgegengesetzte Reden gebe, denn dies impliziere ja bereits den Konflikt zwischen widerstreitenden Argumenten, Interpretationen und eventuell auch Werten (67). Derartige Vorstellungen sind Apfel zufolge stark beeinflusst von der politischen Praxis und vor allem von den Entscheidungsverfahren der athenischen Demokratie. Fähigkeiten wie euboulia und phronesis ermöglichten es, die Vorschläge der einzelnen Redner miteinander zu vergleichen und sich für den besten zu entscheiden, wodurch von einer pluralistischen Ausgangslage aus "a significant degree of objectivity" (74) erzielt werden könne.
Kultureller Pluralismus, der über den Rahmen der einzelnen Polis hinausgeht, findet sich Apfel zufolge vor allem in Platons Dialog 'Protagoras', den sie umsichtig und ausführlich analysiert (79-112). Auch bei der Behandlung von Herodots Geschichtswerk stehen die Vielfalt der Kulturen und die daraus resultierenden Wertekonflikte im Mittelpunkt. Apfel bemüht sich hier, Thukydides als monistischen 'Gegenspieler' aufzubauen, der ebenso wie Platon die ältere pluralistische Denktradition unterdrückt habe (bes. 122). In der Tat postuliert Thukydides in seinem berühmten 'Methodenkapitel' "the existence of a relatively stable human nature and of a set of general laws that govern it" (146). Auch sein Bestreben, zwischen äußeren Anlässen und dem 'wahrsten' Grund für den Ausbruch des Peloponnesischen Krieges zu unterscheiden und so "multiple causes" in eine "monistic hierarchy" (155) zu bringen, wird von Apfel als 'antipluralistisch' interpretiert. Dagegen seien sowohl Herodots Sujet als auch seine Methodik pluralistisch: Diverse Kulturen werden multiperspektivisch und unter Heranziehung unterschiedlicher Quellen beschrieben; statt monokausaler Erklärungen werden zahlreiche, oft nicht zu vereinbarende Argumente aufgezählt, zwischen denen der Leser selbst abwägen muss, weil Herodot allenfalls Präferenzen für oder gegen bestimmte Begründungen äußert (160-179).
Die strikte Dichotomie zwischen den beiden antiken Historikern scheint jedoch zu kurz gegriffen, untergräbt doch Thukydides' Werk selbst immer wieder seine 'monistische' Programmatik. Beispielsweise offenbart der Melierdialog Apfel zufolge zwar "that a conflict between dikaion and xumpheron exists" (190), daraus resultiere jedoch kein Wertedilemma, da für die hoffnungslos überlegenen Athener nur der eigene Vorteil, das xumpheron, zähle. Doch auch wenn die athenischen Gesandten auf Melos nicht bereit sind, Bezugnahmen auf Recht und Gerechtigkeit als Argumente zu akzeptieren, zeigt der weitere Kriegsverlauf die für Athen fatalen Folgen dieses 'Monismus': Sizilische Katastrophe, Abfall der Bündner, Sieg der Spartaner. Dass Thukydides den Melierdialog unmittelbar vor die Schilderung von Athens Weg in die Niederlage setzt, ließe sich auch so interpretieren, dass er zumindest auf die erbarmungslosen Konsequenzen des Gesetzes des Stärkeren hinweisen, wenn nicht gar an der athenischen Fixierung auf diese Doktrin implizit Kritik üben wollte [3].
Ähnlich einseitig, wenn auch in anderer Hinsicht, ist der Abschnitt zu Sophokles. Hier führt Apfel zunächst generell aus, dass die Tragödie die typisch pluralistische Entscheidungssituation exploriert: den Konflikt zwischen unvereinbaren Werten (235). Anschließend wird diese These ausführlich und überzeugend an ausgewählten sophokleischen Dramen (Ajax, Antigone, Elektra, Philoktet) spezifiziert. Als Vergleichspunkt dient dabei primär Homer (213-230), wobei allerdings unklar bleibt, ob Aischylos und Euripides ebenfalls als pluralistische Tragiker anzusehen sind, oder ob Sophokles hier eine Ausnahme, einen Archetypus oder Höhepunkt darstellt.
Insgesamt entsprechen Apfels Ausführungen weitgehend dem Mainstream der gegenwärtigen Forschung; sie nimmt keine radikalen Umdeutungen vor, vermag aber durch ihre konsequente Fokussierung auf das Thema 'Pluralismus' klare Akzente zu setzen und Verbindungen zwischen den einzelnen Denkern zu erhellen. Die Auswahl der drei Denker als Angehörige derselben Generation, erfüllt von einem "co-ordinated 'temper' of thought" (42) ist gut begründet, hätte aber möglicherweise um weitere Sophisten, Historiker oder Dramatiker ergänzt werden können. Negativ macht sich vor allem das Fehlen eines abschließenden Fazits und Ausblicks bemerkbar, denn so bleibt offen, weshalb Platons Philosophie den Pluralismus so durchschlagend zu unterdrücken vermochte. War Platon wirklich so einflussreich? Gab es nicht weiterhin, etwa im Bereich der Geschichtsschreibung, der Rhetorik, der anderen philosophischen Denkschulen, der politischen Praxis, Raum für pluralistische Vorstellungen? Und, besonders schwerwiegend: Was ist mit Aristoteles? Zum Weiterdenken und Hinterfragen regt Apfels Untersuchung somit auf jeden Fall an.
Anmerkungen:
[1] Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., Tübingen 1992 [1945].
[2] Apfel bezieht sich vor allem auf Isaiah Berlin: The Proper Study of Mankind (ed. H. Hardy), London 1998, sowie Ders.: The Crooked Timber of Humanity (ed. H. Hardy), Princeton 1990.
[3] Wird unterstellt, dass Thukydides mit dem Melierdialog mehr verdeutlichen wollte als nur die universale Gültigkeit des Gesetzes des Stärkeren, nähert sich die Interpretation dem von Apfel als "weak pluralism" bezeichneten Konzept an: Dieses geht davon aus, dass in den Entscheidungen zwischen inkommensurablen Gütern oder Werten "there might be something lost, but the decision is nonetheless 'correct'" (16). Genauso haben die Athener keine echte Wahl zwischen xumpheron und dikaion, da sie sich naturgemäß für Ersteres entscheiden müssen; dabei verlieren sie jedoch ebenso unvermeidlich den Wert und die Vorteile des dikaion.
Katarina Nebelin