Aryeh Neier: The International Human Rights Movement. A History, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2012, VII + 379 S., ISBN 978-0-691-13515-1, GBP 24,95
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Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008 versprach der demokratische Herausforderer Barack Obama für den Fall seines Wahlsieges, das von der Bush-Regierung errichtete, umstrittene Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba zu schließen. Menschenrechtsorganisationen hatten das Lager seit seiner Gründung 2002 kritisiert. Auch international waren die USA unter Druck geraten. Wie konnte ein Land, das die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet hatte und sich selbst als Vorreiter einer freien und gerechten Gesellschaftsordnung versteht, gleichzeitig so offensichtliche Menschenrechtsverletzungen begehen? Diese Frage beschäftigte viele nach dem 11. September 2001. In der Folge erhielten internationale Nichtregierungsorganisationen wie die American Civil Liberties Union oder Human Rights Watch spürbar mehr Unterstützung, wie Aryeh Neier im vorliegenden Band zeigt (293f).
Zunehmend rückt die Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, insbesondere ab ihrem internationalen Aufschwung in den 1970er Jahren, ins Interesse nicht nur historischer Forschung. [1] Aryeh Neier widmet sich dem Thema in "The International Human Rights Movement" aus der Perspektive eines Akteurs: Neier, 75, war 1978 Gründungsmitglied von Human Rights Watch und arbeitete 15 Jahre für die American Civil Liberties Union. Bis vor kurzem war er Präsident der Open Society Foundation. Unbestritten ist Neier ein Veteran der internationalen Menschenrechtsbewegung in Gestalt von Nichtregierungsorganisationen, die er im vorliegenden Band beschreibt.
Neiers biografische Verbindung zum vom ihm gewählten Thema bedingt sehr stark die Form der vorliegenden Studie. Das Buch stellt keine wissenschaftliche, quellenbasierte Untersuchung dar, bedient sich aber auch keines rein biografischen Zugriffs. Neier versucht vielmehr, einen großen Bogen zu schlagen. Er legt seiner Darstellung dabei die These zugrunde, dass die durch Nichtregierungsorganisationen vertretene Menschenrechtsbewegung in den letzten 35 Jahren die treibende Kraft hinter dem Schutz der Menschenrechte weltweit gewesen sei (7).
Neiers Herangehensweise ist spannend, birgt aber durchaus Herausforderungen. Da es keine Einleitung im akademischen Sinn gibt, tappt man zunächst im Dunkeln, wohin die Reise der 13 Kapitel gehen wird. Neier wählt einen thematischen Zugriff, bei dem die einzelnen Kapitel dann im Wesentlichen der Chronologie verpflichtet sind. Die Darstellung lässt sich in mehreren Themenblöcken unterteilen, die der Autor indes nicht so benennt. Neier verfolgt in einem ersten, ideengeschichtlich angelegten Block die Entwicklung heutiger Menschenrechtsvorstellungen bis ins 17. Jahrhundert zurück, um daran anschließend näher auf die Entwicklung dieser Vorstellungen im 20. Jahrhundert einzugehen. Dies bildet die Grundlage für die folgenden Ausführungen zu "International Human Rights Law" und "International Humanitarian Law".
Verschiedene Akteure der internationalen Menschenrechtsbewegung betrachtet Neier in einem zweiten thematischen Block zur Zeit des Kalten Krieges. Darin beleuchtet er Menschenrechtsgruppen in Ost und West aus allgemeiner Perspektive. Konkreter wird Neier in seinen Kapiteln zu zwei wesentlichen Akteuren, die in dieser Zeit entstanden: Amnesty International und Human Rights Watch. Neier diskutiert abschließend aktuelle Entwicklungen, wie die Frage danach, welche Rolle "accountability" spielt und welchen Einfluss die Terrorattacken des 11. September 2001 auf die zukünftige Arbeit internationaler Menschenrechtsorganisationen haben werden.
Neier betont, die internationale Menschenrechtsbewegung sei in den 1970er Jahren entstanden. Ihre Entwicklung sei nicht auf einen einzelnen Grund zurückzuführen. Vielmehr seien das Zusammenspiel verschiedener Ereignisse wie der Militärputsch in Chile 1973, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975, die Wahl Jimmy Carters als US-Präsident 1977 und andere Faktoren die Geburtshelfer gewesen. Anders als Samuel Moyn sieht er den "collapse of prior universalistic schemes" nicht als Entstehungsgrund der Bewegung. Moyn irre sich in diesem Punkt, wenn er die Menschenrechte selbst einem "universalistic scheme" gleichsetzte (4).
Auch vor dem Hintergrund der Millenniumsziele der Vereinten Nationen sind Neiers Ausführungen zur Frage, ob sich Menschenrechtsorganisationen mit der Einhaltung "ökonomischer und sozialer Rechte" befassen sollten, spannend zu lesen. Anders als Nobelpreisträger Amartya Sen sieht er einen grundlegenden Unterschied zwischen sogenannten Menschenrechten der ersten Generation - bürgerlichen und politischen - und solchen der zweiten - ökonomischen und sozialen Rechten. Während die Einhaltung bürgerlicher und politischer Rechte mit rechtlichen Mitteln verfolgt werden könne, treffe dies auf die Rechte der zweiten Generation nicht zu, so Neier (77). Insgesamt zeigt sich Neier sehr skeptisch, ob sich Menschenrechtsorganisationen, darunter die von ihm mitbegründete Human Rights Watch, mit Fragen der Einhaltung ökonomischer und sozialer Rechte befassen sollten (81-86).
Ebenfalls lesenswert sind die Überlegungen zur internationalen "accountability", namentlich in Form internationaler Strafgerichtsbarkeit. Neier beschreibt zunächst die Verknüpfung des Gedankens von "accountability" mit dem Konzept der Menschenrechte seit den 1980er Jahren und weist auf die ausschlaggebende Rolle von Human Rights Watch hin, als es galt, einen internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zu schaffen (265f). Er sieht die Rolle solcher Tribunale einerseits darin, "accountability" herzustellen, also den Opfern Respekt zu zollen und Überlebenden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Andererseits besäßen sie auch eine Abschreckungsfunktion. Neier diskutiert differenziert und zurückhaltend positiv gestimmt die bisherige Bilanz internationaler Strafgerichtsbarkeit im Hinblick auf diese beiden Funktionen. So habe es in Ruanda kaum Fälle von Vergeltungsmorden gegeben, was ein positives Indiz dafür sei, dass der Gerichtshof "accountability" hergestellt habe (281). Neier deutet den Rückzug bewaffneter Truppen von fünf afrikanischen Staaten aus dem Kongo im Jahr 2002 als Zeichen, dass die internationale Strafgerichtsbarkeit auch einen gewissen Abschreckungseffekt entfalte (283f).
Die Entstehung der internationalen Menschenrechtsbewegung wird sehr stark in den USA verortet. Die Moskauer Helsinki Gruppe, KOR, die Charta 77 und andere östliche Gruppen und Entwicklungen zur Zeit des Kalten Krieges [2] finden zwar Erwähnung, ihre Verdienste um die globale Bewegung erscheinen aber als von denen westlicher Organisationen abgekoppelt. Insofern reflektiert die Darstellung die Trennung durch den Eisernen Vorhang. Fragen nach transnationalen Einflüssen und Entwicklungen wären darüber hinaus spannend gewesen. Bezüglich der Entstehung der internationalen Frauenrechtsbewegung verweist Neier zwar auf die "First women's rights convention" in Seneca Falls 1848 und deren "Declaration of Sentiments", die maßgebliche Rolle der Französin Olympe de Gouges mit ihrer fünfzig Jahre früher entstandenen "Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne" wäre aber ebenso erwähnenswert gewesen.
Insgesamt liest sich Neiers Geschichte der internationalen Menschenrechtsbewegung an vielen Stellen spannend, an manchen etwas lexikalisch, wenn er zum Beispiel im Kapitel "The worldwide movement" zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, ihre Entstehung und Schwerpunkte überblicksartig erläutert. Neier schlägt in seinem Buch einen großen Bogen; gerade an den Stellen, an denen er vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung eigene Überlegungen einfließen lässt, ist dies äußerst lesenswert. Wer sich daher auf die Form der Darstellung einlässt, wird eine Vielzahl solcher Details und Überlegungen finden, die das Buch zu einem interessanten Beitrag zur derzeitigen Debatte machen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z. B. Samuel Moyn: The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge 2010; Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.): Human Rights in the Twentieth Century, Cambridge 2011.
[2] Sarah B. Snyder: Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network (= Human Rights in History), Cambridge 2011.
Anja Hanisch