Hans-Rudolf Meier / Dorothea Schwinn Schürmann (Hgg.): Himmelstür. Das Hauptportal des Basler Münsters, Basel: Schwabe 2011, 180 S., 140 Abb., 2 Klappkarten, ISBN 978-3-7965-2762-3, EUR 39,50
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Das Westportal des Basler Münsters ist in den letzten Jahren wieder vermehrt in den Fokus der Denkmalpflege und Kunstgeschichte gerückt. Neben dem in der Forschung wesentlich bekannteren Nordportal, der "Galluspforte", ist es das zweite Portal des Münsters, das mit einem umfassenden Skulpturenzyklus ausgestattet wurde. Im Vorlauf einer im April 2012 in Angriff genommenen Gesamtrestaurierung hat sich ein interdisziplinäres Autorenteam das Ziel gesetzt, "das Portal in seinem Bestand, seiner geschichtlichen und architektonischen Entwicklung vor dem jeweiligen historischen und künstlerischen Horizont" (23) neu zu beurteilen.
Vom gotischen Portal, das die Herausgeber um 1270/85 und damit zeitgleich, wenn nicht gar früher als die 1276 begonnene Straßburger Westfassade ansetzen, ist nur noch ein Bruchteil vorhanden (zur Baugeschichte Hans-Rudolf Meier). Nach Beschädigungen durch das Erdbeben von 1356 wurde es 1410/20 umgebaut, nach dem Bildersturm von 1529 (wohl während der Münsterrestaurierung von 1597) erneut umgestaltet und anlässlich der Restaurierung von 1883 einem "optimierenden" Eingriff im Geiste der damaligen Zeit unterzogen. Das ursprüngliche Aussehen des gotischen Westportals, wie es Karl Stehlin 1895 bereits rekonstruiert hat, wird mit einigen Präzisierungen in einem Grundriss (Abb. 59) und einer 3D-Rekonstruktion (Falttafeln 2 und 3) leicht nachvollziehbar gemacht. Für die Hypothese Stehlins, zum Portal habe eine äußere Vorhalle gehört, haben die archäologischen und bauarchäologischen Befunde allerdings keine Hinweise erbracht.
Die "pièce de résistance" der Publikation bildet der Text von Achim Hubel, der weit mehr bietet als die im Titel angekündigten stilgeschichtlichen Ausführungen. In seinen feinsinnigen Beobachtungen, die überzeugend auch materielle und werktechnische Voraussetzungen berücksichtigen, konnte der Autor auf seine umfassenden Arbeiten zum Erminold-Meister und zum Regensburger Dom zurückgreifen, die auch den übrigen Autorinnen und Autoren des Bandes manche Anregung lieferten. Das innovative Potential des Basler Portals zeigt sich laut Hubel in den Archivolten, wo Pflanzen und Figuren gleichberechtigt nebeneinander stehen und konsequent den Reliefgrund und die Vorgaben der Architektur negieren. Letzteres ist eng verbunden mit einer völlig neuen Versatztechnik: Das geschickte Anordnen der Stoßfugen hinter den bildnerischen Motiven erlaubte es dem Bildhauer, Figuren und Pflanzen über weite Strecken freiplastisch auszuarbeiten. Diese Charakteristika sowie der eigentümliche Stil und die Vorliebe für einen harten, feinkörnigen Stein veranlassen Hubel zur Zuschreibung der Basler Archivolten an den in Regensburg tätigen Erminold-Meister, den er versuchsweise mit dem 1283 ebenda erstmals erwähnten Meister Ludwig gleichsetzt. Die Voraussetzungen für dessen Kunst liegen in der Skulptur der Reimser Westfassade und des Pariser Südquerhauses. Die Basler Standfiguren dürfte hingegen ein Bildhauer gefertigt haben, der zuvor am Jungfrauenportal der Straßburger Westfassade tätig gewesen ist. Ihm ist auch der männliche Kopf im Museum Kleines Klingenthal zuzuschreiben, den Hubel als Engel identifiziert und in die Vorhalle als Begleiter der Klugen Jungfrauen lokalisiert. Einen weiblichen Kopf im selben Museum weist er einer Törichten zu. Der weibliche Kopf mit Krone und Schleier im Historischen Museum scheint ihm hingegen zu klein, um zu den Standfiguren des Portals gehört zu haben, von denen er auch stilistisch abweicht. Hubel sieht in ihm den Rest einer ca. 155/160 cm grossen Marienfigur von einem unbekannten Standort, die er um 1290/1300 datiert. Die Polychromie dieser Fragmente, die durchaus zu anderen Hypothesen führen kann (siehe unten), kommt dabei nur am Rande zur Sprache.
Wie Hubel schreibt auch Marc Carel Schurr dem Erminold-Meister nicht nur Teile der Skulptur, sondern auch die Architektur des Portals zu. Dafür sprechen laut Schurr vor allem das gekonnte Ineinanderfließen von retrospektiven und modernen Gestaltungselementen sowie die plastische Qualität des Gebauten. Das Basler Portal hat in Freiburg i.Br. Nachfolge gefunden und wirkt noch im Südportal des Prager Doms und im Westportal des Ulmer Münsters nach. Fraglich bleibt hingegen die Herleitung des Portaltypus vom "portail peint" der Lausanner Kathedrale. Abgesehen davon, dass nach neusten Erkenntnissen schon beim spätromanischen Bau des Basler Münsters eine Vorhalle mit darüberliegender Kapelle geplant war (84f.) und ebenda 1231 ein "porticus ante portam beate Marie" Erwähnung fand (155), gibt es für die zwischen Türme eingespannte, an einen dreitorigen Triumphbogen erinnernde Vorhalle zahlreiche Parallelbeispiele in der elsässischen Romanik (Wernher-Bau des Straßburger Münsters, Lautenbach, Maursmünster und Schlettstadt; ferner Hirsau im Schwarzwald).
Das ursprüngliche ikonografische Programm des Portals wird von Bruno Boerner in enger Anlehnung an die Zyklen in Straßburg und Freiburg i.Br. rekonstruiert. Um eine Kreuzigung als ikonografisches Zentrum im Mittelregister des Tympanons gruppieren sich heilsgeschichtliche Szenen (Geburt und Passion Christi, Deesis) im Tympanon, eine Madonna am Trumeau, die Legende der Klugen und Törichten Jungfrauen als Standfiguren an den Wänden der Vorhalle sowie das Kaiserpaar Heinrich und Kunigunde an der Fassade. Im Vergleich mit der französischen Kathedralskulptur der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verschiebt sich damit der Akzent in Straßburg, Freiburg und Basel von Christus als Weltenrichter zum leidenden oder toten Christus am Kreuz. Das entspricht der sich intensivierenden Passionsfrömmigkeit in den aufblühenden Städten des späten 13. Jahrhunderts. Die Übereinstimmungen in den drei Programmen sind laut Boerner das Resultat eines dynamischen Austauschs von Gestaltungs- und Programmideen auf drei zeitgleichen Baustellen.
Bisher unbeschrittene Wege geht der Beitrag der Restauratorin Bianca Burckhardt zur Polychromie des Portals. Sie untersuchte alle originalen Figuren und Architekturteile auf ihre Farbigkeit und stellte fünf unabhängige Fassungen fest. Die Befunde der ersten Fassung, von der die späteren deutlich abweichen, werden in einer digitalen Rekonstruktion vervollständigt (Falttafel 1) und geben einen Eindruck von der farblich reich differenzierten und mit zahlreichen Goldauflagen akzentuierten ursprünglichen Polychromie. Für den Werkprozess von Interesse ist zudem die Feststellung, dass Architektur und Figuren im Aufbau und in der Zusammensetzung der Malfarben zwar übereinstimmen, in der Grundierung hingegen deutlich voneinander abweichen. Eine schlüssige Erklärung dieses Befundes steht noch aus. Vielleicht wurden die entsprechenden Teile zu unterschiedlichen Zeiten oder von unterschiedlichen Malern gefasst, vielleicht bemalte man die Architektur vor Ort, die mobilen Standfiguren hingegen in der Werkstatt. Erste Ergebnisse lieferte die Farbuntersuchung auch hinsichtlich der Zugehörigkeit einiger kontrovers diskutierter Kopffragmente. Das Fragment im Historischen Museum zeigt in der ersten und einzigen Fassung deutliche Übereinstimmungen mit der Erstfassung der Standfiguren. Für die beiden Fragmente im Museum Kleines Klingental hingegen erlaubte die Befundlage keine eindeutige Zuordnung zu den Buntfassungen des Portals. Weitere Resultate sind im Rahmen der laufenden Restaurierung zu erwarten.
Bisher kaum untersucht ist auch das Thema, mit dem sich der spannende Artikel von Regine Abegg befasst. Sie weist an konkreten Beispielen nach, wie das Basler Hauptportal zu bestimmten Gelegenheiten bespielt wurde. Rechtshandlungen sind am Portal und in der Vorhalle seit 1231 nachgewiesen, als der Graf von Pfirt für die Misshandlung des Basler Bischofs zu Bussübungen an diesem Ort verpflichtet wurde; 1259 ist erstmals von einem notariellen Akt in der Vorhalle die Rede. Liturgische Handlungen sind durch ein Ceremoniale des 16. Jahrhunderts überliefert. Bei grossen Prozessionen an Bitttagen, Fronleichnam oder anlässlich päpstlicher Ablassverkündigungen wird das Hauptportal für den Aus- und Einzug explizit erwähnt; bei normalen Prozessionen dürfte dies die Regel gewesen sein. Im Spätmittelalter wird die Vorhalle in Quellen als Paradies, das Portal als Paradiesportal bezeichnet, wie es auch andernorts üblich war. Die Durchgangssituation von der profanen Welt in die Kirche stand symbolisch für das Himmlische Jerusalem, also für das Paradies. Die Vorhalle galt deshalb als beliebte Begräbnisstätte; das Portal wurde bei Leichenprozessionen für den Einzug verwendet. Dieselbe Symbolik gilt für die Aussöhnung der Büßer am Gründonnerstag in der Vorhalle und den anschließenden Einzug durch die Paradiespforte an der Hand des Bischofs: So wie Petrus die Seligen an der Himmelspforte empfängt, wird der Sünder vom Bischof in den Schoß der Kirche geleitet. Bei weltlichen Empfängen und kirchlichen Zeremonien (Heiltumsweisungen, Krönung und Weihe Papst Felix V.) kam dem Hauptportal hingegen mehr szenografische als symbolische Funktion zu.
Verschiedene Artikel zur Bau-, Restaurierungs- und Forschungsgeschichte sowie zum historischen Kontext, die hier aus Platzgründen nur am Rande oder gar nicht zur Sprache kamen, runden den Band zum Basler Hauptportal ab. Er bringt nicht nur eine Vielzahl neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern ist auch hervorragend bebildert. Für weitere Arbeiten zum Portal selber, aber auch zur oberrheinischen Skulptur des ausgehenden 13. Jahrhunderts ist er ein unverzichtbares Hilfsmittel.
Stephan Gasser