Rezension über:

Iliana Kasarska (Hg.): Mise en œuvre des portails gothiques. Architecture et sculpture, Paris: Picard 2011, 158 S., ISBN 978-2-7084-0891-3, EUR 34,00
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Rezension von:
Martin Rhode
Institut d'Études Médiévales, Université Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Tobias Kunz
Empfohlene Zitierweise:
Martin Rhode: Rezension von: Iliana Kasarska (Hg.): Mise en œuvre des portails gothiques. Architecture et sculpture, Paris: Picard 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 2 [15.02.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/02/21621.html


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Iliana Kasarska (Hg.): Mise en œuvre des portails gothiques

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Bei dem anzuzeigenden Buch handelt es sich um die Tagungsakten eines vom "Centre de recherches en arts" der Universität der Picardie 2009 in Amiens veranstalteten Kolloquiums. Als Fallbeispiele für einen möglichst breiten und interdisziplinären Blick auf die Entstehungsprozesse gotischer Portale sollten französische Objekte in Paris, Amiens, Bourges und das verloren gegangene Portal von Charroux sowie Beispiele aus Spanien (Burgos), Italien (Florenz, Genua, Vercelli) und England (Wells, Salisbury) dienen. Die neuen Möglichkeiten für Interpretationsansätze und Resultate, die sich durch Fortschritte in der Bauarchäologie sowie in den letzten Jahren intensivierte Restaurierungen und damit eine vorher kaum mögliche Nähe zum Objekt ergeben, offenbaren sich in dem Band durch hervorragendes Fotomaterial, das es erlaubt, die verschiedenen Hypothesen anschaulich nachzuvollziehen. Es gab zwar in den letzten Jahren neben zahlreichen Aufsätzen auch Einzelmonografien, etwa zum Königsportal in Chartres, zum Portal der Kartause von Champmol oder zum Portail Peint in Lausanne. [1] Eine umfassende Darstellung der Entstehungsprozesse gotischer Figurenportale ist jedoch schon lange ein Desiderat. Die hierzu in zwei fundamentalen Arbeiten der 1990er-Jahre herausgearbeiteten Thesen [2] hätten laut Herausgeberin Iliana Kasarska in den Tagungsbeiträgen bestätigt und weiter entwickelt werden können. Demnach wäre die in der Fassadenmauer frei gelassene Öffnung für ein Portal zunächst mit den Gewänden, dann den Archivolten und schließlich dem Trumeau, dem Türsturz und dem Tympanon gefüllt worden.

Da sich nur drei Beiträge des Bandes mit dem in Titel und Einführung beschriebenen Thema beschäftigen, sollen auch nur diese eingehender besprochen werden. Dany Sandron zeigt in seinem Beitrag zur Fassade von Notre-Dame in Paris den möglichen Einfluss auf, den die dortige Erfindung der Königsgalerie auf die Gestaltung des Marienportals gehabt haben könnte. Die oberen Partien dieses Portals bieten durch die hohe Steinbearbeitungs- und Versatzqualität ein interessantes Feld für das Studium der Portalmontage. Der Wille zur perfekten Symmetrie äußere sich in verschiedenen Nachbearbeitungs- und Versatzspuren am nördlichen Westportal, aber auch in der seltenen Ausführung der Archivolten, die alle eine gleich große Anzahl von Bogensteinen aufweisen und deshalb von unterschiedlicher Größe sind. Zu Recht stellt Sandron die Frage, warum eine so kohärente Lösung keine weitere Verbreitung erfuhr. Der das Portal überfangene Wimperg war wohl ursprünglich nicht vorgesehen und wurde erst in einer späteren Bauphase hinzugefügt, in der man die Portalgröße der drei Westportale angleichen wollte. Die dadurch gewonnene größere Plastizität, die sich auch bei den beiden anderen Portalen bemerkbar macht, diente wahrscheinlich der Unterstützung einer stärker als geplant hervorspringenden Anlage der Königsgalerie. Wenn man nun die Verstärkung der Portale mit der Erfindung der Königsgalerie in ihrer heutigen Form in Zusammenhang bringt, dann ist logischerweise auch eine andere Datierung für diese Planung anzunehmen. Sie wäre dann nicht zu Beginn der Bauzeit 1160 entwickelt worden, sondern erst unter Bischof Eude de Sully (1197-1208), der enge Beziehungen zum Königshaus hatte. Die bauliche Ausführung ist allerdings weiterhin erst um 1220 anzusetzen. Dieser überzeugenden Hypothese von Sandron kann man durchaus folgen. Sie zeigt, dass man die ursprünglich starke Symmetrie der Portalkomposition der Königsgalerie opferte.

Iliana Kasarska beschäftigt sich im Wesentlichen mit dem Honoratusportal in Amiens. Sie kann glaubhaft die Hypothese von Kimpel / Suckale [3] widerlegen, die noch davon ausgegangen waren, dass die Archivolten von innen nach außen aufgemauert worden seien. Verschiedene Indizien sprechen für zwei Bauphasen und einen Planwechsel, der den figürlichen Reliefs mehr Körperlichkeit verleihen sollte. Demnach wären das Gewände, der Trumeau, der strukturelle Türsturz und die Archivolten in einem ersten Schritt sowie zeitlich in leichtem Abstand dazu der figurierte Türsturz und das Tympanon erstellt worden. Der Versuch der Autorin, die unterschiedlich abgestufte Plastizität im gesamten Portal, die bereits Kimpel / Suckale erkannt hatten, ikonografisch zu deuten, überzeugt jedoch nicht. Die Einzelfiguren der Kreuzigung, im Übrigen Werke des 19. Jahrhunderts, stehen auf eigenen Sockeln, können also kaum als Flachreliefs durchgehen. Auch wenn in Amiens, mit seiner einsetzenden Serienfertigung von Architekturteilen, von einer sehr genauen Planung der Portalausführung auszugehen ist, lassen sich Unregelmäßigkeiten ausmachen, die wohl auf unterschiedliche Werkstätten für Anfertigung und Versatz der Skulpturen zurückzuführen sind. Die allgemeinen Schlussfolgerungen der Autorin enttäuschen, denn dass es vor Baubeginn eines Portals eine genaue Planung gab und sich diese dann im Bauverlauf mit Planwechseln konfrontiert sah, dürfte sich bei kaum einem anderen mittelalterlichen Portal anders verhalten haben.

Christine Hediger beschäftigt sich, gestützt auf ihre noch unveröffentlichte Dissertation, konkret mit der an der Komposition abzulesenden Ausführung der Puerta del Sarmental in Burgos, die ebenfalls während der Errichtung einen Planwechsel erfahren hat. Die Autorin weist überzeugend nach, dass sich die bisher rein stilistisch vermuteten zwei Bauetappen auch an verschiedenen materiellen Indizien nachweisen lassen; die Rückschlüsse für die Chronologie ermöglichen Aussagen über die Beziehungen zwischen Auftraggeber, Architekt und Bildhauer. Während die unteren, noch romanischen Bauteile des Portals mit Sockel und der ersten Arkatur allem Anschein nach für ein schmaleres Portal gedacht waren, zeigen die oberen Teile bereits eine sehr moderne, französisch geprägte Formensprache. Der Türsturz ist viel größer, als er es für die schmale Eingangsöffnung sein müsste, und den Trumeau hätte es nicht wirklich gebraucht. Am deutlichsten wird die Veränderung jedoch an den Ecken zwischen Portaltrichter und Fassadenmauer. Diese Ecken befinden sich im Sockelbereich unterhalb des dritten Bogenlaufes, dagegen in den oberen Teilen des Gewändes am äußersten Punkt der Archivolten. Vom Portaltypus her greift die Puerta del Sarmental auf Bourges-West zurück. Und an diesem Typus hielt man auch noch in den oberen Teilen fest, was zu verschiedenen Schwierigkeiten führte, die sich an Abarbeitungsspuren ablesen lassen. Auftraggeber des Portals war wahrscheinlich Bischof Mauricio de Burgos, der die großen gotischen Baustellen in Frankreich und Deutschland aus eigener Anschauung kannte und etwas Vergleichbares an seiner Kathedrale wünschte. Die reformorientierte Botschaft in der Ikonografie dürfte ebenfalls von ihm stammen und richtete sich an die Kanoniker, die das Portal benutzten. Hediger wirft außerdem die interessante Frage auf, ob die Transmission des Stils durch mobile Künstler oder durch Modelle erfolgt sei. Auch wenn es Anzeichen für Letzteres geben sollte, glaubt sie, die hohe Qualität der Ausführung hätte mindestens einen Werkmeister in personeller Anwesenheit erfordert.

Der Beitrag über das Portal Saint-Ursin der Westfassade der Kathedrale von Bourges hätte nun hier wunderbar anknüpfen und weitere Erkenntnisse über die Portalmontage am französischen Vorbild des spanischen Portals aufzeigen können. Allerdings ist dieser Beitrag eher eine Geschichte der Zerstörungen, Bedrohungen und Restaurierungen der Westfassade und liefert keine Neuigkeiten zur Errichtung eines gotischen Portals.

Und das ist auch bei den anderen Beiträgen der Fall. Es handelt sich um sehr interessante Einzelfallstudien, durchaus mit neuen Erkenntnissen, die aber zum vorgegebenen Thema wenig bis gar nichts beisteuern. Die Gemeinsamkeiten beschränken sich im Wesentlichen auf Kirchenfassadenprobleme in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Wenn man sich durch den Titel "mise en œuvre" erhofft haben sollte, etwas Neues über den konkreten Bauverlauf gotischer Portale zu erfahren, wird man wohl eher enttäuscht feststellen, dass dies nur durch wenige Beiträge geleistet wird. Außerdem ist zu hinterfragen, warum man bei einem so relativ kleinen Sammelband eine möglichst große regionale Verteilung erreichen wollte und mit spanischen, englischen und italienischen Beispielen eine zwar breite, durch das Fehlen etwa von deutschen Beispielen jedoch auch nicht vollständige Palette an Möglichkeiten erreicht. Da wäre wohl eine Beschränkung auf das gotische Kerngebiet in Frankreich sinnvoller gewesen. Auch wenn sich das Buch wohl nicht als neues Handbuch über die Ausführung von gotischen Portalen etablieren wird, lässt es sich durchaus als eine mit Erkenntnisgewinn zu lesende Zusammenstellung von Fallstudien über die Entstehungsprozesse gotischer Fassadenskulptur und Architektur empfehlen. Vielleicht gibt es ja auch den Anstoß zu einer weiterführenden Zusammenarbeit, als deren Ergebnis schließlich eine vergleichende Analyse zur angesprochenen Problematik hervorgehen könnte.


Anmerkungen:

[1] Roland Halfen: Chartres. Schöpfungsbau und Ideenwelt im Herzen Europas. Das Königsportal, Stuttgart / Berlin 2001; Michael Grandmontagne: Claus Sluter und die Lesbarkeit mittelalterlicher Skulptur. Das Portal der Kartause von Champmol, Worms 2005; Peter Kurmann / Martin Rohde (Hgg.): Die Kathedrale von Lausanne und ihr Marienportal im Kontext der europäischen Gotik, Berlin / New York 2004.

[2] Manfred Schuller: Das Fürstenportal des Bamberger Domes, Bamberg 1993; Jean Taralon: Observations sur le portail central et sur la façade occidentale de Notre-Dame de Paris, in: Bulletin Monumental 149 (1991), 342-452.

[3] Dieter Kimpel / Robert Suckale: Die Skulpturenwerkstatt der Vierge Dorée am Honoratusportal der Kathedrale von Amiens, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 36 (1973), 217-265.

Martin Rhode