Rezension über:

Gareth Stedman Jones: Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Einführung, Text, Kommentar, München: C.H.Beck 2012, 319 S., ISBN 978-3-406-63883-1, EUR 14,95
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Rezension von:
Agnieszka Zaganczyk-Neufeld
Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Agnieszka Zaganczyk-Neufeld: Rezension von: Gareth Stedman Jones: Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Einführung, Text, Kommentar, München: C.H.Beck 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 2 [15.02.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/02/21900.html


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Gareth Stedman Jones: Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels

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Kommentatoren des Kommunistischen Manifests fühlen sich oft verpflichtet, den Text positiv [1] oder negativ [2] zu beurteilen und sich dadurch politisch zu positionieren. Bei anderen Kommentatoren ist das Bedürfnis sichtbar, zu der Frage der kausalen Zusammenhänge zwischen Marxismus und Sowjetkommunismus Stellung nehmen zu müssen. [3] Für den englischen Ideenhistoriker Gareth Stedman Jones ist es dagegen wichtig, das Manifest in seinem breiten historischen Kontext zu sehen und es "nicht innerhalb der Geschichte der Wirtschaft, sondern in der umfassenden Geschichte des politischen Denkens" (37) zu verorten. Diese Herangehensweise ist zwar nicht neu, Jones widmet sich jedoch in diesem Rahmen einigen bisher etwas unterschätzten, durch den Kalten Krieg entstellten oder einfach vergessenen ideellen Wurzeln des Manifests.

Etwas unkonventionell beginnt Stedman Jones seinen Kommentar direkt nach dem Vorwort mit einem Abschnitt über die Rezeption des Manifests, doch bei einem so polarisierenden Text wie diesem ist das durchaus nachvollziehbar. Denn die Leser erwarten laut Jones noch heute, im Manifest "eine Darlegung der 'Grundsätze des Kommunismus' zu finden". (20) Die ursprünglichen Pläne, das Manifest in fünf Sprachen zu übersetzen, seien wegen der revolutionären Unruhen des Jahres 1848 aufgegeben worden. (24) Bis 1870 hätten sich "nur ein paar hundert deutschsprachige Veteranen der 48er Revolutionen" an das Manifest erinnern können. (26) Danach hätten eher Marx' Kapital oder Engels'Anti-Dühring als Grundlage des Kommunismus gegolten. Das Manifest sei als "politisches Relikt, eine geliebte, aber doch etwas verstaubte Geburtsurkunde des revolutionären Sozialismus" wahrgenommen worden. (32) Bis zur russischen Revolution 1917 habe in der sozialistischen Bewegung die Überzeugung dominiert, dass das Manifest nicht wortgetreu in die Tat umgesetzt werden konnte. (33) Zwischen 1917 und 1991 sei das Manifest jedoch "als ganz und gar zeitgenössisches Dokument" behandelt worden (35), wobei man hier hinzufügen kann, dass das Manifest in Osteuropa eher als ein Symbol und viel weniger als bestimmter Inhalt allgegenwärtig war.

Nach dem Kalten Krieg und dem Sowjetkommunismus ist es fast in Vergessenheit geraten, dass zu wichtigen ideellen Wurzeln des Marxismus nicht die Industrialisierung oder die Hoffnungen der Industriearbeiter, sondern die Suche nach einem Ersatz für die christliche Religion gehörten (17). In ihrem Kampf gegen das Christentum stellt Stedman Jones die politisch-philosophischen Diskussionen der Junghegelianer mit ihrer "radikalen Verwerfung des religiösen Bewusstseins" (115) und der Kritik des damaligen preußischen Staates dar.

Die Kritik der politischen Ökonomie gehört dagegen zu einem bekannten Marxschen Interessengebiet. Doch Stedman Jones warnt davor, Marx' Vorwort in Zur Kritik der politischen Ökonomie vorschnell als "Gründungsdokument der Wissenschaft des 'historischen Materialismus'" zu interpretieren (151). Da das Buch zur Zeit der Repressionen entstanden sei, habe Marx die Aufmerksamkeit der Zensoren nicht wecken wollen und eine unparteiische Sprache gewählt (152). Zu ähnlichen Missverständnissen wie die Interpretation des Vorworts gehöre nach Stedman Jones auch die Unterschätzung der Rolle Engels' bei der Entstehung des Manifests. In der kommunistischen Literatur sei Engels als stets zur Verfügung stehender loyaler Weggefährte von Marx dargestellt worden (69). Dabei habe er eine eigene Vision des Kommunismus gehabt, die sich auch im Manifest verberge (86) und die Marx da als einen "kritisch-utopischen Sozialismus bezeichnet habe." (87) Im Übrigen sei die Vision von Engels nicht die einzige, die sich im Text des Manifests von Marxschen Gedanken unterscheidet. Auch "die sehr wenigen Sätze, die der Kompatibilität von Kommunismus und Freiheit zur Selbstverwirklichung gewidmet waren", seien vermutlich der Beitrag des Bundes der Gerechten beziehungsweise des Bundes der Kommunisten gewesen (66).

Von allen Autoren, Gruppierungen, Organisationen und Ideen, die Stedman Jones als Inspirationen für das Manifest auflistet und erfreulicherweise in das Register am Ende des Buches aufnimmt, kann im Text des Manifest selbst nichts gefunden werden. Marx und Engels hätten "jegliche Form von intellektueller Vorgeschichte" verschwinden lassen, um die Aufmerksamkeit "von den sozialistischen oder kommunistischen Ideen auf die sozialen Kräfte" zu richten, "die von jenen angeblich repräsentiert wurden". So sei der Eindruck entstanden, "als sei die Geschichte des Sozialismus oder Kommunismus gleichbedeutend mit der Entstehung des industriellen Proletariats" (18). Dabei habe sich die Wahrnehmung des Proletariats dank des Manifest kaum verbessert. Proletariat sei in den 1840er Jahren nicht mit der modernen Industrie, sondern mit Armut und Kriminalität assoziiert worden, es sei eine "Unterschicht" und eine "gefährliche Klasse" gewesen (46), vor der "in hohen Kreisen" "eine panische Angst" geherrscht habe (50f.). Als Marx und Engels vom "Gespenst des Kommunismus" sprachen, habe das deswegen nicht nur eine metaphorische Bedeutung gehabt (52). Im Manifest sei das Proletariat immer noch gefährlich dargestellt gewesen, da es den gewaltsamen Umsturz der bürgerlichen Ordnung durchführen sollte. So habe der Kommunismus "nicht nur der Bourgeoisie, sondern auch den Arbeitern Angst" gemacht (53).

Abschließend stellt Stedman Jones fest, dass Marx daran gescheitert sei, eine Theorie des modernen Kommunismus zu entwickeln. Statt nach zeitgemäßen Lösungen zu suchen, habe er antike, kommunale und vorkapitalistische Formen des Wirtschaftens studiert, vermutlich in der Hoffnung, dass sie "das Geheimnis eines anderen und zuverlässigen Weges zur postkapitalistischen Gesellschaft bargen" (227).

Dem ausführlichen Kommentar von Stedman Jones folgen der Text des Manifest und Vorworte zu einigen deutschen und jeweils einer russischen, englischen, polnischen und italienischen Ausgabe, ergänzt durch weitere detaillierte Anmerkungen. Im Vergleich zu anderen ähnlich konzipierten Kommentaren des Manifest [4] bietet Stedman Jones eine umfassende historische Kontextualisierung des Textes und zeigt überzeugend auf, an welchen Stellen sich die Ideen von Marx und Engels mit anderen zeitgenössischen Projekten überkreuzten. Auf diese Weise präsentiert er weniger eine Ideengeschichte des Kommunismus und vielmehr eine politische Ideengeschichte Westeuropas des 19. Jahrhunderts.


Anmerkungen:

[1] Wie Eric Hobsbawm in: Das Kommunistische Manifest. Eine moderne Edition / Karl Marx und Friedrich Engels. Mit einer Einleitung von Eric Hobsbawm, Hamburg / Berlin 1999, 7-38.

[2] Konrad Löw: Kam das Ende vor dem Anfang? 150 Jahre "Manifest der Kommunistischen Partei", Köln 1998.

[3] Kritisch dazu: Leszek Kołakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall. Erster Band, München 1977, 15-19.

[4] Siehe Anmerkungen [1] und [2] sowie Theo Stammen / Alexander Classen (Hgg.): Karl Marx: Das Manifest der kommunistischen Partei. Kommentierte Studienausgabe, Stuttgart 2009.

Agnieszka Zaganczyk-Neufeld