Brendan C. Lindsay: Murder State. California's Native American Genocide, 1846-1873, Lincoln: University of Nebraska Press 2012, 456 S., ISBN 978-0-8032-2480-3, USD 70,00
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Das Jahr 1848 besitzt auch für die Geschichte Nordamerikas eine besondere Bedeutung, allerdings in ganz anderer Weise als für Europa. Nach ihrem Sieg im Krieg gegen Mexiko verleibten sich die Vereinigten Staaten von Amerika im Friedensvertrag von Guadalupe Hidalgo eine riesige Gebietsmasse ein und schoben ihr Territorium endgültig bis an den Pazifik vor. Durch die Eingliederung von fast der Hälfte des mexikanischen Staatsgebiets wurde 1848 jenes 'American Empire' von Ozean zu Ozean Tatsache, von dem bereits Thomas Jefferson geträumt hatte. Seit 1850 gehörte als 31. Bundesstaat auch Kalifornien zur Union. Nach dem Goldfund am American River wurde Kalifornien schnell in das kapitalistische Weltsystem integriert. Zehntausende von Glücksrittern migrierten ins gelobte Land am Pazifik. Die durch den Goldrausch ausgelösten Veränderungen katapultierten Kalifornien innerhalb von 20 Jahren ins Industriezeitalter, endeten für die California Natives jedoch in einer Katastrophe. Die angloamerikanische Invasion und ihre grundstürzenden Begleiterscheinungen verursachten bei den gegen 100, über das Land zerstreuten indigenen Gemeinschaften einen dramatischen Bevölkerungseinbruch: 1870 lebten noch 30.000 von den 150.000 Indianern, die 1848 das weite Land bewohnt hatten. Umgekehrt explodierte im gleichen Zeitraum die angloamerikanische Bevölkerung von 15.000 auf 560.000 Personen.
Brendan C. Lindsay ist nicht der erste Historiker, der den dramatischen Rückgang der indianischen Bevölkerung im Kalifornien der Goldrausch-Zeit als Genozid und damit als Folge systematischer Ausrottung durch die weissen Newcomer deutet. Schon andere Historiker vor ihm haben die zahllosen Massaker und Mordaktionen, die von Kavallerieeinheiten und Siedlermilizen, aber auch von Kopfgeldjägern zwischen 1849 und 1863 verübt wurden, detailliert aufgearbeitet. [1] Gerade in den ersten Jahren des Staates unternahmen auch Regimenter der Bundesarmee blutige "Strafaktionen" gegen die Pomo, die vielen Dutzenden von völlig unschuldigen Menschen (wie etwa im "Bloody Island Massacre" von 1850) den Tod brachte. Neu an Lindsays Erklärungsansatz ist, dass er die an den kalifornischen Indianern verübte Massengewalt mit dem demokratischen System des 31. Bundesstaates in einen ursächlichen Zusammenhang bringt. Pointiert umschreibt er seinen Analyseansatz selber mit den Worten: "Indeed democracy as a political system served as a genocidal mechanism. The will of the white majority, enshrined as the sacred will of the people, drove the democratic process of creating a multifaceted campaign of genocide in California, in which Native people were starved to death, worked to death, shot to death, or so badly broken by poverty, exposure, and malnutrition as to waste away from diseases at an alarming rate." (Xf.)
In seiner von der UC Riverside angenommenen Dissertation beschreibt Lindsay die junge Republik Kalifornien als "murder state" und versucht zu zeigen, dass deren Bürger demokratische Prozesse und Instrumente nutzten, um die Native Californians auszurotten, da diese der Besiedlung und Erschliessung des Landes im Wege standen. Lindsays Blick ist dabei weniger auf die hohe Politik in der Hauptstadt Sacramento gerichtet als auf die politischen Grasswurzel-Prozesse unter den Siedlern. Überzeugend kann er im ersten Teil seiner Studie ("Imagining Genocide") aufzeigen, dass viele von diesen bereits offen rassistische Einstellungen in ihrem geistigen Gepäck an die Westküste mitbrachten, die das Töten begünstigten. Von Beginn an fühlten sich die neuen Herren den Indianern zivilisatorisch überlegen und verhöhnten diese als "diggers". Auf der tiefsten Stufe der Menschheitsentwicklung stehen geblieben, seien diese ohnehin zu einem baldigen Aussterben verurteilt. Überdies stünden die "roten Teufel" der offensichtlichen Bestimmung Amerikas, den Kontinent in Besitz zu nehmen und in einen blühenden Garten zu verwandeln, im Wege. Zur alltäglichen Normalität gehörten auch öffentlich vorgetragene Vernichtungsdrohungen. So hielt eine im nördlichen Kalifornien erscheinende Lokalzeitung 1853 fest: "Jetzt wo die allgemeinen Feindseligkeiten gegen die Indianer begonnen haben, hoffen wir, dass die Regierung uns solche Hilfe zu Teil werden lässt, die es den Bürgern des Nordens erlaubt, einen Vernichtungskrieg zu führen, bis die letzte Rothaut dieser Stämme getötet ist. Vernichtung ist nicht mehr eine Frage der Zeit - die Zeit ist gekommen."
Nicht in der gleichen Weise schlüssig sind die Argumente, die Brendan C. Lindsay im zweiten Teil ("Perpetrating Genocide") seiner Studie beibringt, um seine Hauptthese zu belegen. Zwar kann er zeigen, dass die junge Republik Kalifornien einseitig Partei für die Siedler ergriff, die sich im grossen Stil fremdes Land aneigneten und auf diesem ihre Herden weiden liessen. Immer stärker aus ihrer ursprünglichen Lebenswelt hinaus gedrängt, blieb den California Indians oft nichts anderes übrig, als Rinder, Schweine oder Pferde der Siedler zu erlegen, um ihren täglichen Bedarf zu decken. Auf diese Angriffe auf ihr Eigentum reagierten diese äußerst gereizt. Ihrer Wut machten sie in Town hall-Versammlungen und Petitionen Luft. Einige Städte setzten Prämien für die Ermordung der "roten Teufel" aus, andere erhoben Sondersteuern, um Indianerjäger anzuheuern. Doch von einer über alle Gouverneurswechsel systematisch verfolgten Regierungspolitik, alle Indianer des Bundesstaates auszurotten, kann keine Rede sein.
Immerhin rief Gouverneur Peter Burnett im Herbst 1850 dazu auf, Freiwilligenmilizen zu bilden, um weiteren Angriffen der "feindlichen Indianer" zuvor zu kommen. Denn die US Army sei vor Ort zu schwach, um die Menschen an der Frontier wirksam zu schützen. In einem Klima des Faustrechts ritten diese "demokratischen Todesschwadrone" (Brendan C. Lindsay) immer wieder aus, um Indianer-Dörfer anzugreifen und ihre Bewohner ohne vorherige Schuldabklärungen zu massakrieren. Die Angriffe erfolgten oft im Morgengrauen. Besonders übel wütete im "Mendocino War" die auf das Kommando des berüchtigten Indianerhassers Walter S. Jarboe hörende Siedlermiliz. 1859 und 1860 brachte allein diese Einheit Hunderte von Yukis wahllos um, so dass es schliesslich Gouverneur John B. Weller zu viel wurde. Jedenfalls forderte Gouverneur Weller den äusserst brutalen Milizenführer mehrfach auf, keine Unschuldigen mehr umzubringen - ohne grossen Erfolg, wie sich zeigen sollte.
Die Hauptthese des dritten Teils ("Supporting Genocide") lautet, dass der Staat Kalifornien, die lokalen Gewaltinitiativen oft billigte und politisch unterstützte. Besonders stark der Fall war dies sicher unter den Gouverneuren Peter Burnett und James B. Weller. Burnetts Überzeugung, dass es das unvermeidliche Schicksal der "roten Rasse" sei, ausgelöscht zu werden, führte, so Lindsay, zu einer Komplizenschaft des Staates im Mordprozess. Insgesamt schickte der neue Bundesstaat mindestens 20 Bürgermilizen zu "Vergeltungsaktionen" aus und übernahm danach auch die dafür anfallenden Kosten. Der junge Historiker Benjamin Madley hat ermittelt, dass Kaliforniens Abgeordnete zwischen 1851 und 1860 1,5 Millionen Dollar für Milizaktionen gegen "feindliche Indianer" bewilligten. Damit finanzierte der Gesetzgeber deren Ausrottung nicht nur mit, sondern sanktionierte den gignatischen Landraub ein Stück weit auch. Als Hauptresultat seiner Untersuchungen hält der Autor fest: "Genocide in the state of California in the nineteenth century was 'planned' by white settlers, miners, and ranchers who used extermination, either physical or cultural, to obtain Indian land and resources. By legalizing, funding, and generally assisting citizens in the commission of genocide, the state and federal governments created a new definition of state-assisted genocide." (359)
Kein Zweifel, in seiner ebenso quellennahen wie moralisch engagierten Studie ("We Californians are the beneficiaries of genocide.") beschreibt Brendan C. Lindsay eine "extrem gewalttätige Gesellschaft" (Christian Gerlach), die viele Selbstgewissheiten des heutigen Amerika in Frage stellt. Entgegen der nach wie vor verbreiteten Ansicht war die indianische Bevölkerungskatstrophe in Kalifornien keine unbeabsichtigte Tragödie und auch nicht der unvermeidbare Preis historischen Fortschritts, sondern das Resultat einer aggressiven, sich letztlich selbst zum Massenmord ermächtigenden Frontier-Gesellschaft. Allerdings erklärt die exzessiv angewandte physische Gewalt die Katastrophe nur zu einem Teil. Unterbelichtet bleiben bei Brendan C. Lindsay das durch Seuchen, Hunger, staatliche Vernachlässigung und Versklavung verursachte Sterben der California Indians. Nicht vollständig zu überzeugen vermag das Konzept des "democratic genocide" (168). Wie man aus der Geschichte Australiens im 19. Jahrhundert weiss, verhielten sich die dortigen, zum British Empire gehörenden Siedler nicht weniger gewalttätig gegenüber den Aborigines. Es ist schade, dass der Autor an keiner Stelle versucht, seine Befunde in einem transnationalen Vergleich zu testen. Trotz dieser Einwände ist Lindsays Studie ein solider Beitrag zur Überwindung eines rein staatsorientierten Genozid-Konzepts.
Anmerkung:
[1] Vgl. etwa Jack Norton: Genocide in Northwestern California. When Our Worlds Cried, San Francisco 1979; Clifford E. Trafzer / Joel R. Hyer (eds.): "Exterminate Them!" Written Accounts of the Murder, Rape, and Enslavement of Native Americans during the California Gold Rush, East Lansing 1999; Frank H. Baumgardner: Killing for Land in Early California. Indian Blood at Round Valley 1856-1863, New York 2006; Benjamin Madley: California's Yuki Indians: Defining Genocide in Native American History, in: Western Historical Quarterly 39 (2008), 303-332.
Aram Mattioli