Mireille Chazan / Gérard Nauroy: Écrire l'histoire à Metz au Moyen Age. Actes du colloque organisé par l'Université Paul-Verlaine de Metz, 23 - 25 Avril 2009 (= Recherches en littérature et spiritualité; Vol. 20), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2011, XI + 485 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-0343-0693-5, EUR 78,60
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Die Historiographie ist in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Thema stadtgeschichtlicher Forschung geworden, die vor allem auf die Erinnerung stiftende, Identität bildende und legitimatorische Funktionen bürgerlicher Geschichtsschreibung im Spätmittelalter hingewiesen hat. Der zu besprechende Sammelband, der Erträge einer Tagung im April 2009 festhält, ist in diesem Kontext anzusiedeln. Mit Fragen nach der Vielfalt an Traditionsformen und der Eigenständigkeit des Genres (Jean-Marie Moeglin) wie auch nach der Qualität historiographischer Werke als zeitspezifische Wahrnehmungen von Vergangenheit und hybride Konstruktionen im Dienste gruppenspezifischer Interessen (Bernard Guenée, Werner Haubrichs u.a.) greift er grundlegende Probleme im Umgang mit chronikalischer Überlieferung auf. Indem von den Verhältnissen in einer Bischofsstadt, nämlich Metz, in langer Sicht ausgegangen wird, setzt der Band indes einen besonderen Akzent. Denn mit Seitenblicken auf methodische Fragen archäologischer Auswertung historiographischer Tradition (Elzbieta Dabrowska) stellen die Beiträge quellennah örtliche Überlieferung zwischen dem frühen Mittelalter und der Eingliederung der Stadt in das französische Königreich vor. Diese akzentuieren in langer Sicht Eigenarten klerikaler und bürgerlicher Darstellungen, an der Produktion von Geschichte beteiligter Kräfte und unterschiedliche Situationen der Instrumentalisierung von Geschichtsvorstellungen.
Gezeigt wird, dass die Autoren im bischöflichen Umfeld zwar immer das hohe Alter des Bischofssitzes herausstellen, die ursprünglich ideale Vorstellung vom Metzer Bischof jedoch mit der herrschaftlichen Durchdringung des Bistums und mit der tridentinischen Reform neu prägen (Arnaud Hari). Wie in prekären Situationen Geschichtsschreibung durch klerikale Gruppen instrumentalisiert wurde, lässt die mit dem Aufstieg der Bürgerschaft konfrontierte bischöfliche Historiographie (Mathieu Perru) ebenso erkennen, wie die klösterliche Überlieferung, die Unabhängigkeit gegenüber dem Bischof legitimiert (Michèle Gaillard) beziehungsweise bürgerliche Stifter in die monastische Ordnung einschreibt (Michelle Chazan).
Die spätmittelalterliche volkssprachliche Geschichtsschreibung in Metz, die - wie auch anderenorts - nunmehr die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft in den Vordergrund stellt, setzt neue Akzente. Nun entstehende Werke spiegeln einen Wandel im Selbstverständnis von Geschichtsschreibern wider, deren Anspruch auf Wahrhaftigkeit immer mehr zum Leitmotiv ihrer Darstellung wird und die Historiographie nutzen, um in Zeiten politischer Krise Beständigkeit und Friedenswillen der Stadt hervorzuheben (Pierre-Edouard Wagner, Maryse Plyer, Monique Paulmier-Foucart, Pierre Demarolle, Julien Léonard). Mit der Reformation veränderte sich auch der Stellenwert der Heiligen in der städtischen Geschichtsschreibung, die - durch die frühe Tradition theologisch gedeutet (Gérard Nauroy) - nun gegenreformatorisch eingesetzt, aber auch ironisch kommentiert wurden (Alain Cullière). Ein besonderes Thema der Metzer Chroniken seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ist die politische Orientierung der Stadt zwischen Frankreich und dem Reich (Jean-Christophe Blanchard). Durch eine je spezifische Akzentuierung dynastisch-imperialer, städtischer und persönlicher Aspekte verleihen diese teils antipatrizischen und pro-französischen Haltungen (Christine Reutenauer-Corti) Ausdruck, teils patrizischer Reichsverbundenheit (Michel Margue).
Inwieweit Metz tatsächlich eine besondere Bedeutung als Zentrum städtischer Chronistik zukommt, müssen Vergleiche mit ähnlich breit und diachron angelegten Untersuchungen zu anderen Städten erbringen. In jedem Falle aber zeigt die Auseinandersetzung mit der chronikalischen Überlieferung der Bischofsstadt, wie fluide die Übergänge zwischen einer ursprünglich klerikalen und mit der Zeit immer bürgerlicheren Geschichtsschreibung sind. Zwar rücken Herkommen, Eigenständigkeit und politisches Handeln sukzessive in den Vordergrund einer von Bürgern getragenen Auseinandersetzung mit Geschichte, doch zeigt sich ebenso, wie sehr ältere Stoffe und Praktiken historischer Erzählung immer wieder neu angeeignet und zur Legitimation von Geschichtsbildern verwendet werden.
Martina Stercken