Björn Reich / Frank Rexroth / Matthias Roick (Hgg.): Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne (= Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge; Beiheft 57), München: Oldenbourg 2012, 330 S., ISBN 978-3-486-71634-4, EUR 74,80
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Der vorliegende Band versammelt Beiträge zur Figur des Experten. Sie stammen von Historikern, Literaturwissenschaftlern, einer Rechtshistorikerin und einem Philosophen und führen vom 12. ins 21. Jahrhundert. Den Entstehungskontext bildet eine Vortragsreihe des Graduiertenkollegs "Expertenkulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts". Die Beiträge setzen sich mit dem Konzept auseinander, den Experten als Träger von Sonderwissen bereits in der europäischen Vormoderne ausfindig zu machen. Dementsprechend schlagen sie einen weiten Bogen und beziehen die Suche nach dem Experten auf die moderne Konzeptionalisierung einer Wissensgesellschaft: Bahnt sich Wissensgesellschaft nicht bereits im 12. Jahrhundert an? Wird Kritik am Experten als einem Repräsentanten von Wissensgesellschaft nicht bereits in der Vormoderne laut? Wie formierte sich Spezial- und Beratungswissen?
Der konzeptionell einleitende Beitrag von Frank Rexroth mit seiner Frage nach Typen vormoderner Expertise sowie nach der Kritik an Spezialisierung bildet die Basis für eine Spurensuche. Die Autoren suchen in vormoderner fiktionaler Literatur (Matthias Roick, Michael Stolz, Björn Reich, Christoph Schanze), populären Handbüchern des Rechts (Hartmut Bleumer, Eva Schumann), naturwissenschaftlichen Selbstreflexionen (Gadi Algazi), auf Gemälden (Martin Mulsow), in Gelehrtensatiren (Marian Füssel), in königlichen Erlässen sowie in Internet und aktueller Tagespresse (Caspar Hirschi). Es ergibt sich ein Panorama mit Brechungen: Rexroth genealogisiert Wissensgesellschaft auf neue Weise, indem er Expertenkulturen seit circa 1100 hypostasiert. Er macht Vorschläge zur Sondierung des Feldes, die in ihrer produktiven Heuristik zu Einwänden reizen. So stellt er ein Sonderwissen der Experten einem kritisch-holistischen Wissen der Laien entgegen, was sehr distinkt erscheint: Gab es nicht auch Personen, bei denen beides konfligierte? Einer Begriffsgeschichte, die den modernen Experten im 19. Jahrhundert situiert, begegnet er mit einer Wortgeschichte, die "expertus", "expert" bereits im Mittelalter kennt (34). Rexroth untersucht stichprobenartig den Gebrauch von "expertus", "peritus" sowie "experiment" und kommt zu dem - angesichts der Frage nach der Kritik überraschenden - Ergebnis, "expertus" sei emphatisch und positiv verwendet worden (38). Sein Zugang eröffnet dabei die Möglichkeit, naturkundliche, quasi-geisteswissenschaftliche und administrative Wissenstypen in ihren Relationen zu sondieren. Bereits daran zeigt sich das große Potential des Konzeptes für wissensgeschichtliche Untersuchungen.
Roick untersucht das Spannungsverhältnis von Humanismus und Expertentum am Beispiel Petrarcas; dessen Koordinaten verschoben sich, sobald Humanisten selbst expertenförmiges Wissen für sich in Anspruch nahmen. Stolz sucht nach einer Behandlung des Themas im Parzival und findet sie in Aussagen, die das Wissen der arabischen Welt als heidnisches oder arkanes Wissen in den christlichen Zusammenhang zu integrieren versuchten. Er bezieht sich auf Lévy-Strauss' Schrift über Masken und zeichnet magisches Wissen als das Expertenwissen des frühen 13. Jahrhunderts aus. Reich und Schanze suchen den Experten in unterschiedlichen literarischen Gattungen und kommen zu dem Ergebnis, dass eine Ausbeute vor allem ab dem 15. Jahrhundert gegeben sei.
Bleumer untersucht das Narrativ des Teufelsprozesses im Laienspiegel von Ulrich Tengler, einem didaktischen Handbuch des Rechts, das sich an nicht-studierte Praktiker, etwa der Verwaltung, richtete. Vor dem Hintergrund einer Verschiebung von theologisch verbindlichen Werten zu juristisch verbindlichen Normen wurde Expertentum remoralisiert: Mit dem Teufelsprozess wurde der Kasuistik das Exempel, dem Prozess die Narration, der juristischen Expertise die Expertenkritik entgegengesetzt. Schumann zufolge bestand die Funktion der Teufelsprozess-Literatur des 12. bis 18. Jahrhunderts darin, das italienische Expertenwissen zum römisch-kanonischen Recht an vergleichsweise ungelehrte Praktiker zu vermitteln, indem juristische Prozesse nach dem Modell der Heilsgeschichte erzählt wurden. Was Bleumer und Schumann für das literarische Exempel und den juristischen Kasus aufzeigen, lässt sich meines Erachtens im Detail auf alchemische Plots und Exempel übertragen.
Algazi untersucht einen Briefentwurf Keplers, in dem der Astronom sich nach dem Tod seiner Frau Barbara als Ehemann, Wissenschaftler und Protestant gegen Anschuldigungen verteidigte und als mögliche Partie für eine weitere Heirat präsentierte. Kepler stilisierte sich als Humanist. Demnach gab es im frühen 17. Jahrhundert noch keine überzeugende Experten-Persona; naturkundliche Expertise war mit niederen Tätigkeiten verquickt, die etwa auch von Gehilfen oder Frauen übernommen werden konnten. Kepler präsentierte seine Arbeit - in Konkurrenz zu den Hofbeamten - als Bücherwissen, Spekulation, Invention und Konzeption und grenzte sie von Aberglaube, Deduktion, Rechnen, Gehilfen-, Steinmetz-, Zimmermanns- sowie Frauen-Arbeiten ab. Algazi analysiert, warum Kepler so stark betonte, dass seine Frau seine naturkundlichen Arbeiten nicht praktisch unterstützt habe.
Mulsow fokussiert auf den Philosophen im Venedig des 17. Jahrhunderts. Er blendet dabei - pro domo - den scholastischen Charakter der Universitätsphilosophie aus und stilisiert den Philosophen als Libertin, der zum Experten- wie orthodoxen Wissen quer stehe. Er thematisiert plurale Rollenanforderungen einer Gesellschaft, die Wissenskulturen des Öffentlichen sowie des Clandestinen kennt, und sucht Experten außerhalb von Institutionen: Gab es Experten der Artisten- oder nur der drei oberen Fakultäten? War Expertenwissen nicht Anwendungswissen und insofern prekär? Mulsow identifiziert das philosophische Wissen etwas vage oder diskret als Weisheit und betrachtet die Expertise der Libertins - hier bereits im Sinne eines Beraterwissens im Umkreis der Mächtigen - als eine Maske.
Füssel behandelt den Experten als Gelehrten der vier Fakultäten. Er untersucht Gelehrtensatiren des 16. bis 18. Jahrhunderts, die sich zumeist von Gelehrten an Gelehrte richteten; dabei kommt auch der Charlatanerie-Diskurs in den Blick, den er als Kritik an einer marktförmigen Statuskonstitution analysiert. Füssel zufolge waren die Möglichkeiten der Abgrenzung von Experten gegenüber Gelehrten im Alten Reich eher schwach; er führt dies auf die geringe Bedeutung von Akademien im Unterschied zu Universitäten zurück.
Hirschi zeichnet, mit einer Fallgeschichte des 21. Jahrhunderts eröffnend, die Genese des offiziellen Experten aus französischem Gerichtswesen und Akademiebetrieb des 18. Jahrhunderts nach; und charakterisiert Experten über ihren "eunuchenhaften" Status, beraten aber nicht entscheiden zu können (302). Das Modell des regierungsnahen Beraters unter Ludwig XIV. habe sich gegen das englische Modell des inoffiziellen Beraters durchgesetzt. Seiner Analyse zufolge gab es im 18. Jahrhundert jedoch weitere Formen des Expertentums: etwa Vertreter der mechanischen Künste, welche die Rolle des Beraters vor Gericht ausübten. Die Genese modernen Expertentums wird von Hirschi aus dem Nützlichkeitsanspruch der Aufklärung erläutert.
Durch die lange Dauer des Untersuchungszeitraums erzählt der Band die Geschichte des Experten gegen den Strich. Es zeigen sich Brüche, die auch das moderne Experten-Konzept tangieren können. Die Heterogenität der Zugriffe verbürgt, dass das Thema nicht vorzeitig in Hinblick auf bestimmte Erwartungen homogenisiert und geschlossen wird.
Ute Frietsch