Magnus Pahl: Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung, Berlin: Ch. Links Verlag 2012, 464 S., ISBN 978-3-8615-3694-9, EUR 49,90
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Prognosen sind bekanntlich schwierig: Das gilt nicht nur für Meteorologen und Investmentbanker, sondern war auch ein Problem von Fremde Heere Ost, jener Abteilung im Generalstab des deutschen Heeres, die während des Zweiten Weltkrieges für die Analyse der Roten Armee und der daraus abgeleiteten Vorhersage ihrer jeweils bevorstehenden Operationen verantwortlich zeichnete. Magnus Pahl untersucht in seiner Studie, der eine Dissertation bei Nikolaus Katzer zugrunde liegt, wie während des Ostfeldzuges der Wehrmacht Informationen über den militärischen Feind beschafft und ausgewertet wurden.
Fremde Heere Ost war kein geheimer Nachrichtendienst, sondern Teil des Generalstabs. Ihr Auftrag bestand in der Auswertung, nicht in der klandestinen Beschaffung von Nachrichten. Dazu war sie auf die Aufklärungsergebnisse der Abwehr angewiesen, hatte allerdings die Möglichkeit, über Verhöre von Kriegsgefangenen auch eigene Erkenntnisse zu gewinnen. Im Verlaufe des Krieges verstand es die Abteilung allerdings, immer mehr Kompetenzen an sich zu ziehen und seit 1943 schließlich doch auf geheimdienstliche Strukturen - nämlich die für Spionage zuständigen Frontaufklärungstruppen der Abwehr - zurückgreifen zu können. Mit dem Amt Ausland/Abwehr, aber z.B. auch mit der Partnerabteilung Fremde Luftwaffen Ost war die Zusammenarbeit mehr oder weniger einvernehmlich, mit dem für politische Spionage zuständigen Amt VI des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) war sie viel schwieriger, insbesondere, als die Abwehr im Frühsommer 1944 vom RSHA geschluckt wurde. [1] Fremde Heere Ost sah sich seitdem im Zweifrontenkrieg: mit der Roten Armee als äußerem Feind und dem RSHA als Feind im Innern (221).
Pahl geht systematisch vor und erläutert detailliert die Organisation und Arbeitsweise von Fremde Heere Ost sowie die Strukturen der nachgeordneten Feindaufklärung, die in den Truppengeneralstäben von der Division bis zu den Heeresgruppen bei den Ic-Offizieren verortet war. Der Ic-Dienst besaß das Wissen über den Feind, aber in seinem Prestige lag er hinter dem Ia-Dienst, also der Operationsführung. Dort wurden die militärischen Meriten verdient und Karrieren gemacht, weshalb 80 Prozent aller Generalstaboffiziere den Ic-Dienst umgingen und dort nie Verwendung fanden. Feindaufklärung hatte zudem einen Ruf des Konspirativen, was nach überliefertem Ehrbegriff dem Soldatischen entgegenlief.
Von 1938 bis 1942, unter Oberst i.G. Eberhard Kinzel, war Fremde Heere Ost personell schwach besetzt. Die Sowjetunion wurde aufgrund alter und neuer Vorurteile gegen Russentum und Bolschewismus unterschätzt. Als Oberst i.G. Reinhard Gehlen (seit Dezember 1944 Generalmajor) für die Feindaufklärung zuständig wurde, stieg deren Bedeutung, was vordergründig der Lage an der Ostfront geschuldet war. Entscheidenden Anteil besaß auch das Geschick des neuen Abteilungsleiters, die Bedeutung seiner Arbeit im Generalstab gezielt hervorzuheben.
Über weite Passagen schreibt Pahl auch eine Biographie des 1902 geborenen Gehlen. Dem skeptischen bis geringschätzigen Urteil, das die (noch immer sehr überschaubare) Forschung über Gehlen als ersten Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes in der Bonner Republik gefällt hat, schließt sich Pahl für die Kriegszeit nicht an. Begabt und karrierebewusst, war Gehlen kein Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie und teilte nicht die völkischen Vorurteile des Regimes. Die Ic-Offiziere wussten von den Mordaktionen während des rasseideologischen Vernichtungsfeldzuges gegen die Sowjetunion - viele von ihnen waren sogar an ihnen beteiligt. Gehlen kritisierte die deutsche Besatzungspolitik zwar als fehlgeleitet, weil sie den Partisanen in die Hände spielte (21). Er war aber ein entschiedener Antikommunist, der die mörderische Politik wie so viele seiner Generalstabskameraden letztlich doch hinnahm. Vom militärischen Widerstand hielt er sich fern. Geschickt lenkte er seine Abteilung durch die Fährnisse der institutionellen Konkurrenz zum RSHA und verstand es, die eigenen Prognosen über die Rote Armee so im Vagen zu halten, dass sie angesichts der tatsächlichen Entwicklung an der Ostfront nie als völlig falsch erschienen. Reiner Opportunist war Gehlen dennoch nicht: Er war bereit, auch Tatsachen zu melden, die Hitler ablehnte und die in einer zunehmenden Aversion des Diktators gegen den jungen General mündeten.
Die Kardinalfrage der Studie lautet: Hat Fremde Heere Ost die Absichten der Roten Armee richtig antizipiert? Oder handelte es sich bei der Abteilung tatsächlich um "einen eher erfolglosen Haufen"? [2] Im Zuge der sowjetischen Ostpommern-Operation 1945, die in einem eigenen Kapitel exemplarisch näher untersucht wird, erwiesen sich die Annahmen der Feindaufklärer als wenig präzise. Mehr noch, in seiner Einschätzung, die Sowjets würden erst die Flankenbedrohung aus Pommern beseitigen, bevor sie weiter auf Berlin zumarschierten, lag Hitler richtig und Gehlen falsch. Der Offizier hatte zwar das operative Denken Marschall Schukows richtig beurteilt, Hitler dagegen Stalins Haltebefehl treffend vorhergesehen.
Pahls abschließendes Urteil ist wohltuend differenziert: Auf operativ-taktischer Ebene habe Fremde Heere Ost im Rahmen der Möglichkeiten zuverlässig gearbeitet. Für eine strategische oder gar (militär-)politische Aufklärung besaß Gehlens Aufklärungsverbund dagegen weder Auftrag noch Mittel. Die mangelhafte Nachrichtenbeschaffung in der Tiefe des Raumes machte die Arbeit der Abteilung anfällig für Fehlprognosen. Hinzu trat bei der NS-Führung eine ideologische Wahrnehmung der Sowjetunion, die einer objektiven Betrachtung der Feindlage zuwider lief. Weniger an professionellem Unvermögen als an strukturellen Defiziten scheiterte Fremde Heere Ost. Die Pointe dabei: Die heraufziehende Konstellation des Kalten Krieges erkannte Gehlen mit strategisch-politischem Weitblick richtig. Er rettete sein einzigartiges Material über die Rote Armee durch die Wirren des Kriegsendes. Als unverzichtbarer Partner machte er mit der "Organisation Gehlen" nach der deutschen Kapitulation im Auftrag der Amerikaner dort weiter, wo er im April 1945 im Generalstab hatte aufhören müssen.
Die gelungene Darstellung wie souveräne Quelleninterpretation resultiert auch aus der Vertrautheit des Autors mit militärischen Zusammenhängen und der einschlägigen Terminologie. Wer damit ebenfalls vertraut ist, kann sich der Lektüre rundum erfreuen; wer fachliches Neuland betritt, wird von Pahl durch den klaren Aufbau des Buches und die nachvollziehbare Argumentation mitgenommen. Fast einhundert Seiten Anmerkungsapparat schließen sich dem Darstellungsteil an, was die Lektüre etwas mühsam macht; der Fachmann läse lieber Fußnoten. Gleichwohl gehört dieser sorgsame Nachweis zu den Stärken des Buches: Wenn sich Geheimdienstgeschichte (auch wenn Fremde Heere im klassischen Sinne kein Geheimdienst war) weiter zu einem ernst genommenen Sujet in der Geschichtswissenschaft entwickeln will, kommt es nicht zuletzt darauf an, ihre Seriosität im Umgang mit den Quellen zu belegen - als handwerkliche Voraussetzung für den Nachweis, dass sie akademischen Ansprüchen auch hinsichtlich ihrer inhaltlichen Relevanz genügt.
Anmerkungen:
[1] Nach Pahls Buch zu diesem Beziehungsgeflecht dennoch weiterhin unverzichtbar: Michael Geyer: National Socialist Germany: The Politics of Information, in: Knowing One's Enemy. Intelligence Assessment Before the Two World Wars, edited by Ernest R. May, Princeton 1984, 310-346.
[2] So jüngst im bekannt schnoddrigen Stil des Nachrichtenmagazins Klaus Wiegrefe: Gekaufte Geschichte, in: DER SPIEGEL Nr. 3/2013 v. 14.01.2013, 52.
Armin Wagner