Monika Baár: Historians and Nationalism. East-Central Europe in the Nineteenth Century, Oxford: Oxford University Press 2010, XI + 340 S., ISBN 978-0-19-958118-4, GBP 69,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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In ihrem ambitionierten Buch analysiert Monika Baár die Wirkung von fünf mitteleuropäischen Historikern: Joachim Lelewel (1786-1861), Simonas Daukantas (1793-1864), František Palacký (1798-1876), Mihály Horváth (1804-1878) und Mihail Kogălniceanu (1818-1891). Diese Gelehrten stehen zugleich am Anfang der polnischen, litauischen, tschechischen, ungarischen und rumänischen nationalen Narrative und wurden als Väter der jeweiligen Nationen gefeiert. Der geistesgeschichtliche Zugang bewirkt, dass die Autorin sich weniger auf die direkte Rezeption und Auswirkung konzentriert, sondern vielmehr auf die Analyse der Texte der Protagonisten.
Baárs Interessen sind dabei vielfältig. Einerseits untersucht und vergleicht sie die Tätigkeit und die historiografischen Konzepte ihrer fünf Protagonisten, andererseits will sie auf die Eigenständigkeit des zentraleuropäischen Geschichtsdiskurses hinweisen und vor allem dem anglophonen (Fach-)Publikum diese Personen überhaupt erst einmal bekannt machen. Das Buch nimmt eine komparative Perspektive ein und diskutiert im Sinne der "intellectual history" die fünf Autoren im Hinblick auf historiografische Konzepte der Romantik, etwa der Entdeckung der Antike und der Idee vom "Goldenen historischen Zeitalter", das durch fremde Einflüsse zu Ende gegangen sei. Baýr verortet die Ansätze allerdings nicht im luftleeren Raum, sondern verbindet sie mit den Entwicklungen in anderen Diskursen, wodurch der Leser oft das Bild einer "histoire croisée" vermittelt bekommt.
Baýr zeichnet zunächst die Historikerprofile sowie deren kulturellen und institutionellen Hintergrund nach. Mit Ausnahme von Daukantas waren sie "public intellectuals", die nicht nur geschichtswissenschaftliche, sondern auch politische Impulse setzten. Lelewel und Horváth mussten wegen ihres politischen Engagements emigrieren, Kogălniceanu war einige Jahre halb-offiziell verbannt, Palack ý wurde durch seine Teilnahme an den Ereignissen von 1848 berühmt. Ihr Leben fiel zudem in eine Zeit, als sich unter politisch nicht immer günstigen Verhältnissen eine wissenschaftliche Infrastruktur ausbildete - oft mit ihrer Beteiligung oder gar auf ihre Initiative hin. Baár unterstreicht dabei auch die Innovationsfähigkeit der Peripherie wegen der fehlenden rigiden wissenschaftlichen Strukturen bei den nicht-staatstragenden Kulturen, wenn sie etwa für die österreichische oder britische Historiografie eine "belatedness of the center" (102) feststellt.
Die These von der Innovation an der Peripherie begleitet auch das Kapitel über den intellektuellen Hintergrund der fünf Protagonisten. Dabei konzentriert sich Baár vor allem auf die "unique configurations" (104) der jeweiligen Diskurse und unterstreicht die Eigenständigkeit bestimmter Denkformen, die sie oft eher dem Zeitgeist als einer direkten Rezeption zuschreibt. Diese theoretische Prämisse wird leider nicht ganz eingelöst, denn, abgesehen von "local Enlightenments" (104), folgt Baárs Narrativ der Rezeption, und zwar der von Johann Gottfried Herders der Göttinger Spätaufklärung (vor allem August Schlözers, Arnold Heerens), der französischen liberalen Historiografie (Fran çois Guizots, Jules Michelets, Augustin Thierrys), Nikolaj Karamzins und der schottischen Aufklärung (am Beispiel von William Robertson). Wenn die lokalen Einflüsse und Traditionen dabei auch wenig berücksichtigt werden, so zeichnet Ba ár doch ein dynamisches Bild von der Anpassungsfähigkeit bestimmter Thesen in unterschiedlichen Nationsbildungs-Kontexten und unterstreicht nochmals zentraleuropäische Gleichzeitigkeiten und Parallelen. Zudem geht die Varietät der Einflüsse über das Herder für gewöhnlich zugeschriebene Primat hinaus, wenn Ba ár auch Herder eine wichtige Rolle einräumt.
Von den Kontexten zur Analyse übergehend, unterstreicht die Autorin die Beteiligung aller Historiker an den Sprachformierungs- und Sprachentwicklungsprozessen. Dabei konzentriert sie sich nicht nur auf deren Einfluss bei der Durchsetzung historischer Publikationen in den jeweiligen Sprachen, sondern auch auf deren Tätigkeit als Wörterbuch-Autoren und Sprachpopularisatoren (Kogălniceanu schrieb zwei Theaterstücke, Daukantas übersetzte Johann Campes "Robinson der Jüngere"). Wenn auch nicht jede Eigenschaft für jeden der Historiker zutreffend war, so konstatiert Ba ár bei allen doch eine starke Verbindung zwischen Inhalt und Form sowie die Betonung kultureller Eigenständigkeit und sprachpuristischer Elemente (bei Kogălniceanu in Verbindung mit der Latinisierung des Rumänischen). Diese Forderung nach Eigenständigkeit wurde durch die Einschreibung der eigenen Sprache in das historische Kontinuum noch verstärkt: Kogălniceanu unterstrich die lexikalischen beziehungsweise prosodischen Übereinstimmungen des Rumänischen mit dem Lateinischen, Daukantas und Palack ý die Übereinstimmungen mit dem Sanskrit.
Der nächste, sehr ausführliche Teil konzentriert sich auf die jeweilige Vision der historischen Kontinuität. Alle fünf Historiker konstruierten weit in die Vergangenheit reichende Narrative, um ihre politischen Forderungen zu rechtfertigen. Ba ár unterstreicht insbesondere die Rolle der damals breit debattierten Antiquität, die als Argument für eine nationale kulturelle Eigenständigkeit angesehen wurde. Mit unterschiedlichen Argumenten verfolgten die Historiker ähnliche Strategien einer historischen Selbstverortung durch die Verwendung gleicher Tropen (vor allem des "edlen Wilden" oder von Tacitus' Germanenbild). Wenn die Objektivität derartiger Darstellungen von allen Historikern hervorgehoben wurde, was bei Horv áth aufgrund der Quellenlage dazu führte, den "kämpferischen Charakter" der ungarischen Nomaden nicht zu leugnen, so resultierte im Fall von Palacký der Quellenfetischismus in Verbindung mit argumentativer Kohärenz in der Akzeptanz der bereits damals umstrittenen "Rukopisy". Baár hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass es sich bei der Antiquitätssuche keineswegs um ein zentraleuropäisches Spezifikum handelte, genauso wenig wie bei dem frivolen Umgang mit der fehlenden Quellenlage beziehungsweise mit Falsifikationen.
Der Antike, der Epoche von "rural freedom" (222), folgte die Epoche des Feudalismus, die die Autoren, abgesehen von Lelewel, mit fremder Kolonisierung gleichsetzten, oft in Verbindung mit starker Kritik an dem Adel. Dabei haben alle Historiker den Feudalismus später als in Westeuropa angesetzt und als eine Anomalie der idealisierten nationalen Entwicklung angesehen. Die nachfolgende Epoche, das "Goldene Zeitalter", war ähnlich gelagert, mit Hervorhebung des politischen Liberalismus und konfessioneller Freiheiten, die wiederum durch fremde Unterdrückung beendet worden sei. Baár unterstreicht die sich dabei zwischen den von ihr behandelten Personen abzeichnenden Konflikte, etwa bei Lelewel und Daukantas, die Polen-Litauen mit unterschiedlichen Schwerpunkten behandelten. Wie die Autorin in einem eigenen Kapitel ausführlich darlegt, war diese narrative Struktur nur durch eindeutige ethnisierende Abgrenzungen möglich, wobei diese nicht unbedingt zur Ausschließung anderer ethnischer Gruppen aus der imaginierten Nation führten. Baár unterscheidet hier zwischen Beschreibungen von "external" und "internal others" (256-288) - im ersten Fall handelt es sich um die Nachbarn, im zweiten um Juden, Jesuiten und Frauen. Abschließend analysiert sie die Selbstverortung ihrer Protagonisten auf der europäischen Landkarte. Zwar wiesen die fünf Historiker markante Unterschiede in ihrer Bewertung "des Westens" auf, doch war ihnen gemein, dass sie ihren Nationen eine positive Rolle im europäischen Spektrum zuschrieben und damit die zirkulierenden Vorwürfe, der Osten sei stets peripher und rückständig, kontestierten.
Das vorliegende Werk demonstriert auf eindrucksvolle Art und Weise, wie komparative Geschichtsschreibung umgesetzt werden kann, und Baár untermauert ihre Analyse mit einem Literaturverzeichnis in mehreren Sprachen. Wenn auch auf Ebene der Einzelanalyse bestimmte Positionen ausführlicher hätten beschrieben werden können (etwa die Frage von Nationalismus und Loyalität), so ist das Buch doch eindeutig eine der wichtigsten und besten Arbeiten der romantischen Geschichtsforschung in den letzten Jahren. Außerdem unterstreicht das Buch erfolgreich die Position der zentraleuropäischen Historiografie innerhalb des europäischen Geschichtsnarrativs, worauf Baár ohne Zweifel auch abgezielt hat.
Jan Surman