Johannes Frackowiak: Wanderer im nationalen Niemandsland. Polnische Ethnizität in Mitteldeutschland von 1880 bis zur Gegenwart (= Studien zur Historischen Migrationsforschung; Bd. 24), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, 238 S., ISBN 978-3-506-77108-7, EUR 29,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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In den letzten Jahren sind zumindest in unserem östlichen Nachbarland die Diskussionen über die Existenz einer polnischen Minderheit in Deutschland in politischen Kreisen wiederaufgelebt. Dem folgten allerdings keine neuen wissenschaftlichen Studien zur Existenz polnischstämmiger Gruppen außerhalb der bekannten Großregionen wie Rheinland und Westfalen oder Oberschlesien seit dem späten 19. Jahrhundert.
Der selbst aus dem Milieu polnischer Migranten der ersten Stunde stammende Johannes Frackowiak hat in der vorliegenden Studie die Geschichte der Industrieregion um Bitterfeld seit den 1880er Jahren einer genauen Analyse unterzogen. Als Folge des beginnenden Braunkohlebergbaus und anschließend des Ausbaus der Chemieindustrie kamen am Ende des 19. Jahrhundert viele Zuwanderer in die nördlich von Leipzig gelegene Landschaft. Im Rahmen der Binnenmigration handelte es sich auch hier um überdurchschnittlich viele polnischsprachige Arbeitskräfte. Da sich das bekannte Phänomen der Kettenwanderung auch für Mitteldeutschland nachweisen lässt, ergab sich ein besonders großer Anteil von Zuwanderern aus der Provinz Posen (93 Prozent). Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf den Familien, die sich in der Ortschaft Sandersdorf niederließen und deren Geschichte Frackowiak über die Jahrzehnte hinweg genau verfolgt; darunter befindet sich auch seine eigene Familie.
Diese gruppenbiografische und mit Rekonstruktionsprozessen arbeitende Verfahrensweise hat ihre Stärke in der dichten Beschreibung der mikrohistorischen Vorgänge. Die zufällige Überlieferung bestimmter Quellen - unter anderem ein Manuskript über die Geschichte der Bitterfelder Polen sowie die geretteten Sitzungsprotokolle des Sokół-Vereins - ermöglicht einen direkten Blick auf die Vergangenheit. Frackowiak ist sich aber der Notwendigkeit bewusst, allgemeine Fragestellungen der historischen Migrationsforschung in seine Gedanken mit einzubeziehen, um der Gefahr der Kleinteiligkeit zu begegnen. An einigen Stellen ist dennoch zu bemerken, dass die Distanz zu familiären Schilderungen größer hätte ausfallen müssen, denn gerade mündliche Äußerungen von Angehörigen der Polonia werden nicht immer kritisch hinterfragt. Dies gilt zum Beispiel für die (falsche) Behauptung eines Zeitzeugen, Gärten zur Eigenversorgung mit Obst und Gemüse seien in Polen bis in die 1950er Jahre hinein unbekannt gewesen (204).
Die Kernthesen des Buches besagen, dass zum einen der Bedeutungsanstieg beziehungsweise -verlust einer nationalen Selbstzuschreibung sich in einem umgekehrten Verhältnis zur Integration in die Umgebung verhalten habe und zum anderen Assimilationsprozesse nicht zwangsläufig zu einem Endpunkt gelangen müssten, sondern es unter bestimmten Umständen auch eine Rückbesinnung auf die Wurzeln, ein "ethnic revival", geben könne.
Im ersten Teil schildert Frackowiak die Prozesse vor dem Ersten Weltkrieg. Er bestätigt dabei die Ergebnisse für andere Regionen insofern, als die Verbindungen zur Heimatregion immer stärker an Bedeutung verloren, dennoch aber Mischehen mit der Bevölkerung vor Ort in dieser Phase praktisch nicht vorkamen. Die Zuwanderer der ersten Generation wirkten fast ausschließlich als ungelernte Arbeitskräfte, ihr Rückhalt in einer mehrheitlich evangelischen Umgebung waren die katholische Kirche, deren Strukturen sich aber erst allmählich und nicht ohne große Spannungen herausbildeten, und mit dieser zum Teil verbundene polnische Vereine. Die Einflussnahme (zugereister) Minderheitenaktivisten hatte zur Folge, dass die nationale Frage um das Jahr 1900 an Bedeutung gewann und - auch bedingt durch Phänomene der Ablehnung durch die Einheimischen - eine Schließung der ethnischen Gruppe im Rahmen einer Eigen-Fremd-Kategorisierung einsetzte. Ein gewisser Kulminationspunkt der Konflikte stellte in der Region Bitterfeld das Jahr 1904 dar, als die preußischen Behörden sich genötigt sahen, gegen die "nationalen" Selbstorganisationsversuche im Umfeld der Kirchengemeinde vorzugehen und diese vor allem durch den Einsatz arbeitsrechtlicher Maßnahmen weitgehend zu zerschlagen. In den Folgejahren stand die Pflege polnischer Sprache und Kultur wieder stärker im Blickpunkt.
Die zweite Phase war zum einen durch die beginnende Tätigkeit des Sokół-Vereins bis 1914, aber auch durch die sich mittels onymischer Anpassungen und interethnischer Eheschließungen abzeichnenden stärkeren Assimilationsprozesse gekennzeichnet. Der angebliche Aufruf zum Gegensteuern durch die polnische nationale Bewegung, etwa durch die Vergabe altslawischer und somit nicht zu germanisierender Vornamen, wird von Frackowiak leider nicht belegt (92).
Der dritte Teil ist mit den Folgen des Ersten Weltkriegs und dem danach von deutscher Seite in die Wege geleiteten Optionsverfahren verbunden. Die Entscheidung für oder gegen eine polnische Staatsbürgerschaft war für die Bitterfelder Polen häufig mit Konsequenzen verbunden, die bis weit in den Zweiten Weltkrieg hineinreichten. Obwohl sich viele von ihnen für die polnische Nationalität entschieden, war damit häufig kein konkreter Rückkehrwunsch verbunden, auch wenn dies von offizieller deutscher Seite - erst recht im Nationalsozialismus - so ausgelegt wurde und der "Weg zurück" zur deutschen Staatsbürgerschaft meist versperrt war. Ansonsten war die Zwischenkriegszeit von gewissen Widersprüchen geprägt, die mit dem Generationswechsel innerhalb der Polonia zu tun hatten. So setzten sich zum Beispiel auf der einen Seite Stimmen durch, die eine Öffnung des polnischen Vereinswesens für alle Sportinteressierten ablehnten, auf der anderen Seite scheint außerhalb von Sandersdorf die Bereitschaft zum Engagement für das Minderheitenwesen deutlich nachgelassen zu haben.
Die vierte Phase war von der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Umsetzung geprägt, die nicht auf eine Germanisierung, sondern eine Ausgrenzung der Polen abzielte. Von den wenigen Jahren der taktisch bedingten Annäherung infolge des Nichtangriffsvertrags von 1934 einmal abgesehen, erfolgte eine zunehmende Eingrenzung der Möglichkeiten der Bitterfelder "Polen", die letztlich zur Zerschlagung all ihrer Organisationen im Jahre 1939 führte. Die Diskussionen um die Zugehörigkeit zur Deutschen Volksliste, die die Kriegsjahre prägten und die im Einzelfall durchaus dramatische Folgen haben konnten, kann Frackowiak sehr anschaulich illustrieren. Allerdings fehlt hier an einigen Stellen die Einordnung in den Gesamtkontext des Themas, wie es die Debatte über die "Polen in der Wehrmacht" im letzten Jahrzehnt vorgemacht hat.
Im letzten Teil der Arbeit werden die erneuten Optionsmöglichkeiten nach 1945 dargestellt, die eine Remigration mancher Polnischstämmiger der Region zur Folge hatte. Dass sich eben die Mehrheit dagegen entschied, zeigt, dass die Integration vor Ort - auch durch die NS-Zwangsmaßnahmen - schon weit fortgeschritten war. Das Ergebnis einer hybriden und transnationalen Selbstwahrnehmung als Folge eines langen, generationsübergreifenden Prozesses, der bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen ist, lässt sich zweifellos auf andere Minderheitengruppen übertragen.
Problematisch erscheint allerdings im gesamten Buch die Verwendung des Begriffs "Identität". Zwar orientiert sich Frackowiak in Anlehnung an Scott Lash und Jonathan Friedman an einem wandelbaren Identitätsbegriff, verwendet dann im Buch dennoch immer wieder die Formulierung "polnische Identität", als ob diese bei allen davon Betroffenen etwas Statisches darstellen würde und man quasi nur von einer "deutschen" zu einer "polnischen" oder umgekehrt wechseln könne. Ihm ist nicht klar, dass kontinuierlich multiple Identitätsangebote parallel existieren, die miteinander konkurrieren, und dass die Festlegung auf ethnische oder kulturelle Faktoren letztlich nur ein Interpretationsangebot darstellt, das so im Alltag in reiner Form gar nicht vorkommt.
Diese Unklarheiten ändern jedoch nichts daran, dass Frackowiak eine sichtbare Forschungslücke auf überzeugende Weise geschlossen und unser Wissen von den Grautönen in Bezug auf die in Deutschland lebenden Polen deutlich vermehrt hat.
Markus Krzoska