Rezension über:

Kimberly Elman Zarecor: Manufacturing a socialist modernity. Housing in Czechoslovakia, 1945-1960 (= Pitt Series in Russian and East European Studies), Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2011, XIV + 383 S., 292 b&w ill., ISBN 978-0-8229-4404-1, USD 45,00
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Rezension von:
Jan Musekamp
Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Jan Musekamp: Rezension von: Kimberly Elman Zarecor: Manufacturing a socialist modernity. Housing in Czechoslovakia, 1945-1960, Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 4 [15.04.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/04/23321.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Kimberly Elman Zarecor: Manufacturing a socialist modernity

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Wer heute die Länder Ost- und Ostmitteleuropas bereist, trifft allenthalben auf die sichtbarsten materiellen Zeugnisse kommunistischer Herrschaft, nämlich auf Stadtteile, die von so genannten Plattenbauten geprägt sind. Sicherlich kann dieses Phänomen auch in Vorstädten Schwedens, Westdeutschlands oder Frankreichs beobachtet werden, nirgends jedoch sind diese Bauten so dominant wie im früheren Einflussbereich der Sowjetunion. Häufig wird diese Typenbauweise mit Einflüssen moderner Strömungen der Zwischenkriegszeit erklärt - besonders hartnäckig hält sich jedoch die Vorstellung von der sowjetischen Provenienz einer in der Regel zudem als monolithisch wahrgenommenen Bauform. Diese Mythen kann Kimberley E. Zarecor in ihrer Arbeit zum Wohnungsbau der Tschechoslowakei vor dem Hintergrund des Versuchs der Produktion einer sozialistischen Modernität (so der treffende Titel des Buches) widerlegen. Sie präsentiert dem Leser das differenzierte Bild einer eigenständigen, wenn auch nicht isolierten tschechoslowakischen Entwicklung. Dabei handelte es sich nicht einfach um einen abrupten Übergang von den "eleganten Formen der Zwischenkriegszeit zu den rohen und schweren Bauten der Nachkriegszeit" (5). Vielmehr bettet Zarecor die Entwicklungen in der Architektur in den Kontext der Neuformierung einer Kulturlandschaft ein, in der das Verhältnis "zwischen kreativen Praktiken und technologischem Determinismus" (5) neu justiert wurde.

In fünf weitgehend chronologisch angeordneten Teilen wird die Entwicklung von 1945 bis zum Ende der 1950er Jahre dargestellt. In einem ersten Teil nimmt die Autorin die unmittelbare Nachkriegszeit bis zur Machtübernahme durch die Kommunisten im Februar 1948 in den Blick. Sie verweist auf personelle Kontinuitäten zur Zwischenkriegszeit, wie sie beispielsweise mit Václav Hilský und Evžen Linhart gegeben waren: Als politisch links stehende Architekten spielten sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine prominente Rolle und waren Sieger des Architektenwettbewerbs zum Bau eines Kollektivhauses mit 292 Wohneinheiten in Litvίnov, das aus Kostengründen jedoch erst in den 1950er Jahren realisiert wurde. Das bedeutendste Projekt während des Zweijahrplanes war jedoch das Modellwohnentwicklungsprogramm, das in Brüx (Most), Kladno und Mährisch Ostrau (Ostrava) zur Errichtung neuer Wohngebiete mit bereits stark standardisierten Gebäuden führte.

Im zweiten Teil analysiert Zarecor die Entwicklung von Standardisierung und Typisierung im Wohnungsbau. Die kommunistische Machtübernahme führte bereits im Juni 1948 zur Verstaatlichung der stark diversifizierten tschechoslowakischen Bauindustrie. Für Design und Entwicklung war der neu geschaffene Firmenzweig Stavoprojekt verantwortlich. Die ausgehenden 1940er Jahre waren von einer sich verschärfenden Wohnungsnot geprägt, der man mit Hilfe des massenhaften Baus von standardisierten Typenbauten begegnen wollte. In diesem Bereich konnte man sich auf die Erfahrungen des Baťa-Konzerns aus der Zwischenkriegszeit stützen, der in Zlίn bereits vor dem Krieg standardisierte Fabrikgebäude, Schlafquartiere, Schulen, Einkaufszentren und Ähnliches errichtet hatte. Die Tschechoslowakei entwickelte sich nach 1948 zu dem europäischen Land mit der größten Bedeutung von Typenbauten: So wurden Gebäude der T-Serie ab 1950 im ganzen Land errichtet, bereits im ersten Jahr wurde mit dem Bau von 17 000 Wohneinheiten begonnen.

Der dritte Teil widmet sich dem sozialistischen Realismus in der Tschechoslowakei, der hier als "Sorela" bezeichnet wurde. Für diesen Stil ist ein großer Einfluss der Sowjetunion nicht von der Hand zu weisen, die Autorin verweist jedoch auf die Komplexität des Phänomens, das auch an klassizistische Strömungen der Moderne aus den 1920er Jahren angeknüpft und nationale Elemente aufgenommen habe. Zudem kam es Anfang der 1950er Jahre zu einem Generationenwechsel in den Architekturbüros, der die Einführung des neuen Stils begünstigte. Als prominenteste Beispiele dieses Stils können das Hotel Internacion␉l in Prag (Praha) sowie der Ostrauer Stadtteil Poruba genannt werden. Die Verfasserin führt in diesem Kapitel bedeutende Beispiele aus der Sowjetunion an, auch ein vergleichender Blick auf die zur gleichen Zeit entstandenen "Stalinstädte" in der DDR (Eisenhüttenstadt) und Polen (Nowa Huta) hätte hier gelohnt. [1]

Dem herausragendsten tschechoslowakischen Vertreter der Sorela, Jiřί Kroha, ist der vierte Teil gewidmet. Kroha hatte sich bereits in der Zwischenkriegszeit als linker Vertreter des Modernismus einen Namen gemacht, nach 1948 war er aktives Parteimitglied und federführend an Bauprojekten im slowakischen Nová Dubnica und in Ostrau beteiligt. Er war der wohl am stärksten von einer sozialistischen Vision nach sowjetischem Vorbild erfasste Architekt, in seinen Projekten lässt sich aber durchaus auch eine tschechoslowakische Note ausmachen. Die Entstalinisierung setzte seiner Karriere 1955 ein Ende.

Der letzte Teil befasst sich mit der Industrialisierung des Wohnungsbaus und dem Siegeszug der Plattenbauweise. Zarecor verweist ausführlich auf die Erfahrungen, die bei Baťa, aber auch in den USA und anderen Ländern bereits in der Zwischenkriegszeit gesammelt wurden, um dann auf die Entwicklung in der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg einzugehen. Dabei wird deutlich, dass von einem Druck seitens der Sowjetunion nicht gesprochen werden kann; vielmehr konnte die tschechoslowakische Bauindustrie auf wesentlich größere Erfahrungen und eine bessere materielle Ausgangsbasis verweisen als die sowjetische Bauindustrie. Das Institut für Fertigteilgebäude experimentierte in den 1950er Jahren in Gottwaldov, Prag und Brünn (Brno) mit den vier postulierten Entwicklungsphasen des industriellen Wohnungsbaus. 1954 wurden in Gottwaldov erste Prototypen eines als G-Serie bezeichneten Plattenbaus (panelák) errichtet. Mit der Errichtung von mehreren Fabriken zur Produktion der Betonfertigteile setzte dann ab Ende der 1950er Jahre der Siegeszug dieser Bauweise ein.

Nur wenig gibt es an diesem mit reichhaltigem Bildmaterial versehenen und einem Sachindex erschlossenen Band auszusetzen. So ist die Autorin bisweilen etwas nachlässig in ihrer Differenzierung der beiden deutschen Nachbarstaaten, wie beispielsweise die Karte auf Seite XIV zeigt. Bei der Analyse der Ursprünge des standardisierten Typenbaus kommt es zudem zu kleineren Redundanzen in den Kapiteln zwei und fünf hinsichtlich der bei Baťa in der Zwischenkriegszeit gesammelten Erfahrungen. Insgesamt tut dies der faszinierenden Studie jedoch keinen Abbruch. Sie endet mit den ausgehenden 1950er Jahren und verweist in einem Epilog auf die in der Tschechoslowakei gerade in den späten 1960er und 1970er Jahren entstehenden großen Trabantenstädte aus Typenbauten, wie der ab 1974 in Bratislava errichtete Stadtteil Petržalka. Diese weitere Entwicklung hat zwar eine filmische Verarbeitung mit Vera Chytilovás "Panelstory" von 1979 gefunden, harrt aber weitergehender wissenschaftlicher Untersuchungen.


Anmerkung:

[1]: Vgl. Dagmara Jajeśniak-Quast: Stahlgiganten in der sozialistischen Transformation. Nowa Huta in Krakau, EKO in Eisenhüttenstadt und Kunčice in Ostrava, Wiesbaden 2010.

Jan Musekamp