Dorle Merchiers / Gérard Siary (Hgg.): Transmission de la mémoire allemande en Europe centrale et orientale depuis 1945. Spuren deutscher Identität in Mittel- und Osteuropa seit 1945 (= Convergences; Vol. 61), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2011, LVI + 382 S., ISBN 978-3-03-430655-3, EUR 66,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die verbliebenen deutschsprachigen Minderheiten in Ost- und Ostmitteleuropa haben in den letzten Jahren einiges wissenschaftliches Interesse erfahren. Im Mittelpunkt stand dabei häufig der Themenkomplex "Flucht und Vertreibung" [1], der in der medialen Öffentlichkeit noch immer eines der bestimmenden Themen mit Blick auf das Verhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn bildet. Die Debatten darüber werden nach wie vor bisweilen kontrovers geführt. Die interdisziplinäre wissenschaftliche Beschäftigung damit hat demgegenüber weitgehend zu differenzierteren Betrachtungsweisen und Erklärungsmustern gefunden. In diesem Kontext ist überwiegend auch der von der mit zahlreichen Arbeiten zu Christa Wolf und Siegfried Lenz hervorgetretenen französischen Literaturwissenschaftlerin Dorle Merchiers und ihrem Kollegen Gérard Siary herausgegebene Tagungsband zu verorten. Er versammelt die Beiträge einer internationalen Konferenz - neben französischen und deutschen waren daran auch Wissenschaftler aus den behandelten ost- und ostmitteleuropäischen Ländern beteiligt -, die bereits Ende 2006 in Montpellier stattgefunden hat und nach der Tradierung deutscher Identität durch literarische Werke, aber auch durch Filme und Architektur fragte.
Anhand des Bandes werden exemplarisch einige Herausforderungen zweisprachiger Publikationen deutlich. Eines der Problemfelder liegt im Verhältnis der beiden Sprachen zueinander. Die aufgrund der Titelwahl zu erwartende Ausgewogenheit von französisch- und deutschsprachigen Beiträgen löst der Band nicht ein. Von 24 Aufsätzen sind 18 in Französisch verfasst. Auch die Abschnittsüberschriften sowie Einleitung und Zusammenfassung der Herausgeber liegen nur in französischer Sprache vor. Bereits an der Titelwahl zeigt sich das Problem der Übersetzung, wenn aus dem komplexen Bedeutungsgeflecht von "Gedächtnis" und "Erinnerung" ("mémoire") im deutschen Titel "Identität" wird - sicher gehören diese Begrifflichkeiten eng zusammen, austauschbar sind sie nun aber doch nicht. Auch die Übertragung von "transmission" in "Spuren" ist diskutierbar, zumal die Herausgeber in ihrer Einleitung selbst mehrfach von den "traces de la mémoire allemande" sprechen und man vielleicht besser diesen Titel auch für die französische Variante gewählt hätte. Positiv hervorzuheben ist demgegenüber der Abdruck inhaltlicher Zusammenfassungen in französischer, deutscher und englischer Sprache - allerdings bleibt unklar, warum die französischsprachigen Zusammenfassungen in der Reihenfolge der Beiträge, die deutsch- und englischsprachigen jedoch in der alphabetischen Reihenfolge der Autorennamen angeordnet sind. Die formale Gestaltung der einzelnen Beiträge etwa in der Zitierweise unterscheidet sich bisweilen stark, ein häufig bei zweisprachigen Bänden anzutreffendes und wohl letztlich nicht befriedigend lösbares Problem. Eine sinnvolle Ergänzung hätte ein Register dargestellt, da einzelne Autoren und Themen in mehreren Beiträgen angesprochen werden. Aus Sicht des deutschen Rezipienten, zumal des Nichtgermanisten, wären zudem genauere Informationen über die Verfasser der Beiträge interessant gewesen.
Diesen Einwänden zum Trotz erweist sich die inhaltliche Ausgestaltung der "Spurensuche" als größtenteils anregend und perspektivenreich, wenn auch in ihren Wertungen oft sehr zugespitzt. Sie wird in vier Abschnitten vorgenommen, nicht alle Beiträge sollen hier gesondert angesprochen werden. Der erste Teil des Bandes widmet sich Fragen von "Mémoire et histoire", wobei sich die darunter versammelten Aufsätze eher um "Geschichtspolitik" drehen. Pascal Fagot etwa befasst sich mit der "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" der 1950er- und 1960er-Jahre und deren politischen Hintergründen. Laëtitia Michel analysiert die deutschen und polnischen Debatten um das "Zentrum gegen Vertreibungen" des Bundes der Vertriebenen, allerdings eben nur bis Ende 2006. Bleibt die Kritik an den "organisierten Vertriebenen" hierin in Stil und Sprache noch ausgewogen, schießt der Beitrag von Earl Jeffrey Richards über das Ziel hinaus und bietet wenig mehr als undifferenzierte Pauschalurteile gegen von ihm identifizierte "neue Apologeten" beziehungsweise eine "neue Apologie der Vertriebenen" (66 und andere) (es soll nicht verschwiegen werden, dass er darunter auch den Betreuer des Dissertationsprojektes des Rezensenten subsumiert). Hier kann die Kritik an einem früheren Beitrag des Wuppertaler Romanisten übernommen werden, demzufolge dessen Ausführungen "derart eindimensional [seien], dass seine Befunde kaum mehr sind als die Negativfolie für autoritär-aufgeklärte Werturteile des Verfassers. [...] Statt zu fragen, wird immer alles schon gewusst." [2]
Der weitaus größte Teil des Bandes ist unter der Überschrift "Mémoire et littérature" im engeren Sinne literaturwissenschaftlich ausgerichtet und versammelt insgesamt 13 Beiträge. Diese widmen sich in der Hauptsache den Werken von Autoren, die aus den Vertreibungsgebieten stammen, untersuchen aber auch den Umgang mit der "deutschen Vergangenheit" in der polnischen und tschechischen Literatur der Nachkriegszeit (Karol Sauerland, Xavier Galmiche, Petra James). Der Abschnitt ist in drei kleinere Themenkomplexe unterteilt: Die "Inventaires" nähern sich der Forschungsfrage über die Betrachtung größerer Textkorpora, die "Études des cas" versammeln Fallstudien zu Olga Tokarczuk (Hans-Joachim Hahn), Horst Bienek (Adolf Höfer), Siegfried Lenz (Merchier) und Erwin Wittstock (Patrice Neau), und die Rubrik "Cartographies et Intertextes" fragt nach den Beziehungen von Landschaft und Identität, wobei besonders die Bukowina bedacht wird (Herta Luise Ott, Marie Lehmann).
Der kürzere dritte Abschnitt greift das Konzept der "Erinnerungs-" bzw. "Gedächtnisorte" auf und wendet es etwa auf den Fürst-Pückler-Park Bad Muskau an. Catherine Robert konstatiert, dass mit der Neugestaltung seit Beginn der 1990er-Jahre ein grenzüberschreitender Erinnerungsort geschaffen worden sei, der als Brücke zwischen deutscher und polnischer Bevölkerung dienen könne. Zahlreiche teilweise farbige Abbildungen unterstützen die Aussagen. Der abschließende vierte Abschnitt widmet sich ebenfalls zeitgenössischen Themen und untersucht aktuelle Identitätsdebatten. Olga Šmídová zeigt darin am Beispiel der deutschen Minderheit in Tschechien, wie offizielle Deutungsangebote und persönliche historische Erinnerung auseinanderklaffen können. Auch für den Historiker ergeben sich hier - wie im gesamten Band - zahlreiche fach- und länderübergreifende Bezugspunkte und Perspektiven, wenngleich manche Wertung diskutabel bleibt.
Anmerkungen:
[1] Für eine kontextualisierend-analytische Anwendung des Begriffspaares plädierte zuletzt Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011. Einen wichtigen und instruktiven, problem- und erinnerungsgeschichtlich orientierten, jedoch oft polemisch zuspitzenden und die Heterogenität der bestehenden Diskurse bisweilen verkennenden Beitrag liefern Eva Hahn / Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn u.a. 2010; siehe dazu auch die Rezension von Maren Röger, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Foschung 60 (2011), 114-116.
[2] Michael Schwartz: Rezension zu: Elke Mehnert (Hg.): Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht, Frankfurt a.M. u.a. 2001, in: H-Soz-u-Kult (26.04.2002), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-057.pdf [Abruf: 18.01.2012], 1f. der PDF-Fassung.
Martin Munke