Christian Westerhoff: Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914-1918 (= Studien zur Historischen Migrationsforschung; Bd. 25), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 377 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-3-506-77335-7, EUR 39,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs 2014 wirft bereits jetzt seine Schatten voraus, allerorten werden Konferenzen und Publikationen geplant. Wenn man die Erinnerungslandschaften in Europa betrachtet, wird das Ereignis wohl vor allem für die West- und die Alpenfront groß zelebriert werden, während in den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union das Interesse wesentlich geringer ist. Sehr oft herrscht hier noch die Vorstellung, man habe an diesem Krieg gar nicht teilgenommen, relevant sei vor allem das Jahr 1918, das die lang ersehnte Unabhängigkeit brachte. Entsprechend ungleich ist auch die historische Forschung, die für die Ostfront nur als spärlich und ungenügend bezeichnet werden kann, sowohl in Deutschland als auch vor Ort.
Umso erfreulicher ist es, dass Christian Westerhoff nun mit seiner in Erfurt bei Jochen Oltmer entstandenen Dissertation zeigt, wie gewinnbringend die Beschäftigung mit dem Krieg in Osteuropa sein kann. Basierend auf einer umfangreichen Literaturauswertung und Materialien aus deutschen, lettischen und litauischen Archiven untersucht das Buch die deutsche Beschäftigungspolitik in den eroberten Gebieten Ober Ost und Generalgouvernement Warschau zwischen 1914 und 1918. Trotz einer eher disparaten Überlieferungslage wird damit eine Forschungslücke geschlossen: Die dortige Zwangsarbeit war bisher höchstens als Nebenaspekt in den raren und meist schon bejahrten Überblicksdarstellungen behandelt worden.
Westerhoff hat sich für eine chronologische Gliederung entschieden, die den Krieg in drei Phasen einteilt, die erstens den Zeitraum bis Sommer 1916 mit dem Antritt der 3. Obersten Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, zweitens Herbst und Winter 1916 sowie drittens die letzten beiden Kriegsjahre umfassen. Innerhalb dieser Kapitel wird dann jeweils das Geschehen in den zwei Untersuchungsregionen betrachtet, wobei wiederum eine Unterscheidung zwischen der Anwerbung von Arbeitern für das Reich und der Beschäftigung vor Ort getroffen wird. Das mag auf den ersten Blick etwas starr wirken, bietet aber einen klar strukturierten Überblick, mit dem vor allem deutlich wird, wo denn die jeweiligen Unterschiede und Gemeinsamkeiten lagen.
Dabei zeigt sich schnell, dass die Besatzungen durchaus unterschiedlich waren. Während in Ober Ost das Militär eine geplante, strikt zentralisierte Musteradministration schaffen wollte, war dem Generalgouverneur Hans von Beseler in Warschau eine Zivilverwaltung beigegeben, die wesentlich mehr Wert auf ein ebenso legalistisches und pragmatisches Vorgehen legte. Die Politik wurde nicht in Berlin gemacht, vor Ort herrschte große Selbständigkeit - die auch genutzt wurde. Ähnliche Aufgaben wurden dabei in den beiden Gebieten unterschiedlich angegangen. Ein gewissermaßen monolithischer Erfahrungsraum im Osten, der einerseits auf koloniale Erlebnisse zurück- und zugleich auf die nationalsozialistischen Verbrechen vorgriff, war nicht zu beobachten. Anders lautende Postulate, wie sie in den letzten Jahren mit größerer Aufmerksamkeit, aber geringerer Belegdichte vor allem Vejas Liulevicius [1] vorgetragen hat, werden hier nicht bestätigt, sondern mehr oder weniger explizit widerlegt: Der Erste Weltkrieg war kein Probelauf, sondern höchstens ein recht weit gefasster, diversifizierter "Erfahrungshorizont" (319).
Westerhoff kann überdies deutlich machen, dass die "Musterverwaltung" in Ober Ost keinesfalls so erfolgreich war, wie sie sich gerierte. Ganz im Gegenteil kamen bereits zeitgenössische Einschätzungen nach dem Krieg zu dem Ergebnis, dass Warschau mit einem durchwegs konzilianteren Vorgehen, das die Einheimischen zumindest teilweise einband, größere Wirkung bei der Nutzbarmachung des Landes für die deutschen Interessen erzielte. So gab es bis Herbst 1916 keinen Zwang bei der Anwerbung von Arbeitern für das Reich, nicht einmal - wie bisher angenommen - bei jüdischen Kräften. In der zweiten Phase, die auch im Generalgouvernement zu härteren Maßnahmen führte, näherte sich die Politik in den beiden Gebieten an, um sich dann ab Winter 1916 abermals auseinanderzubewegen: Während Ober Ost grundsätzlich auf Zwangsmaßnahmen setzte, war dies weiter südlich im Wesentlichen nur noch bei der Bewirtschaftung von Großgütern zu beobachten.
Diese Strukturgeschichte von oben, die die Perspektive der Einheimischen weitgehend ausklammert, liefert eine minutiöse Rekonstruktion des Wechselspiels zwischen Berlin und den Lokaladministrationen, in der auch die Einflüsse des allgemeinen Kriegsgeschehens, etwa das Hindenburg-Programm, gebührend berücksichtigt werden. Differenziert wird dabei auf das Phänomen der Zwangsarbeit geschaut, das Westerhoff mit seiner schlüssigen Definition sinnvoll kategorisiert, um so eine allzu pauschale Qualifizierung jeglicher Beschäftigung unter deutscher Herrschaft als "Zwang" vorzubeugen. Vor allem im Generalgouvernement Warschau war der allergrößte Teil der Arbeit weiterhin frei und die Menschen höchstens temporär einem direkten Zugriff der Besatzer ausgesetzt; auch zahlenmäßig blieb man im Ersten Weltkrieg weit hinter den Gewalt- und Deportationsexzessen der Nationalsozialisten zurück.
Das Buch wartet mit einigen Abbildungen, Tabellen und Karten auf, verzichtet aber leider auf ein Register. Das ist im Grunde aber der einzige Wermutstropfen einer ansonsten ebenso wichtigen wie grundlegenden Untersuchung. Sie zeigt vor allem, wie viel Potenzial eine Beschäftigung mit der so vernachlässigten Ostfront des Ersten Weltkriegs bietet. Es bleibt zu hoffen, dass weitere vergleichende Studien auch die Besatzung durch die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie einbeziehen, deren Rolle als Bündnispartner vor Ort, konkret im Militärgeneralgouvernement Lublin, trotz viel besserer Überlieferungslage noch weitgehend einer Erforschung harrt. Das gilt genauso für den Blick weiter nach Osten, wo 1917 in der Ukraine der Einmarsch in ein Land zu beobachten war, das auch 25 Jahre später eine Schlüsselrolle für den "Griff nach der Weltmacht" spielen sollte. Westerhoff hat hierzu bereits ein paar kluge, abwägende Bemerkungen gemacht - aber es bleibt noch viel zu tun. "Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg" kann dafür ein instruktiver Wegweiser sein.
Anmerkung:
[1] Vejas Liulevicius: War Land on the Eastern Front. Culture, National Identity, and German Occupation in World War I, Cambridge 2000.
Stephan Lehnstaedt