Christopher Görlich: Urlaub vom Staat. Tourismus in der DDR (= Zeithistorische Studien; Bd. 50), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 290 S., ISBN 978-3-412-20863-9, EUR 37,90
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Vor zwei Jahren hat Rüdiger Hachtmann der Tourismusgeschichte ein Dasein als "Mauerblümchen" innerhalb der deutschen Zeitgeschichte attestiert. Die Gründe hierfür sah er neben theoretischen und methodischen Abgrenzungs- und Erfassungsproblemen vor allem auch in den hier stark dominierenden ökonomischen Interessen, die gesellschaftswissenschaftliche Fragestellungen vielfach überdecken. Gleichzeitig verwies er aber auch auf die Chancen und Perspektiven einer Tourismushistoriografie, die insbesondere für die DDR-Forschung weiterführende Erkenntnisse für die Gesellschaftsgeschichte des ostdeutschen Teilstaates verspricht. [1]
Christopher Görlich versteht in seiner gedruckten Dissertation Tourismus als Raum, in dem einerseits der SED-Herrschaftsapparat seinen alleinigen Gestaltungs- und Normierungsanspruch deutlich artikulierte, in dem aber andererseits Bürger ihre eigenen Vorstellungen von Urlaub durchsetzten und diesen unter anderem als Möglichkeit des Rückzugs vom staatlichen Einfluss sehen wollten. Dieser Rückzug, so betont der Autor, sei nicht als "Rückzug aus der politischen Sphäre ins Private" (15) zu verstehen, obwohl der gewählte zweideutige Titel "Urlaub vom Staat" genau dies suggeriert. Görlich sieht vielmehr darin einen zentralen Aspekt der politischen Herrschaftsverhältnisse in der DDR. Er untersucht Urlaub daher als Beziehungsgeschichte von Regime und Individuum und deren gegenseitigen Wechselwirkungen. Dabei knüpft Görlich an die Begriffe "Herrschaft als soziale Praxis" und "Eigen-Sinn" an, die auf die Aneignungen und Deutungen von Herrschaftsverhältnissen zielen und bereits in den 1990er Jahren von Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger als Forschungsansatz konturiert und für die DDR-Forschung operationalisiert worden sind. Als tourismustheoretisches Konzept greift der Autor zurück auf Hans Magnus Enzensbergers Sicht vom Urlaub als Fluchtbewegung. Die Untersuchung erstreckt sich über die gesamte Dauer der DDR. Der lange Untersuchungszeitraum erfordert eine Beschränkung der Studie auf den staatlich organisierten Tourismus - so die Argumentation des Verfassers. Andere Formen des Reisens bleiben daher leider ausgeblendet.
Görlich widmet sich der Geschichte des FDGB-Feriendienstes, den Reisenden, den Leitern und Mitarbeitern in den Ferienheimen und zuletzt der DDR als touristischem Ort. Insbesondere die Ausführungen zum FDGB-Feriendienst zeigen den tiefgreifenden Wandel zwischen 1949 und 1989. Bereits vor der offiziellen Gründung des zentralen Dienstes im Mai 1947 hatten Einzelgewerkschaften ihre ehemaligen Erholungsheime genutzt, um Arbeitern Erholungsaufenthalte zu ermöglichen. Die Politisierung und Ideologisierung des FDGB-Feriendienstes in den 1950er Jahren, der weitere Ausbau touristischer Angebote und die Reformen der 1960er Jahre sowie die sozialpolitischen Maßnahmen während der Honecker Ära und der allgemein damit einhergehende Utopieverlust, der sich auch im staatlich organisierten Erholungswesen zeigte, belegen, dass Urlaub in der DDR nicht statisch war, sondern Veränderungen und Anpassungen unterworfen war. Interessant hierbei sind vor allem die Passagen, in denen Görlich Ausdifferenzierungen auch außerhalb des staatlich organisierten Erholungswesens aufzeigt, wie z. B. betrieblich organisierte Reisen, das aus der Deutschen Reichsbahn ausgegliederte Reisebüro der DDR, Campingurlaub sowie Individualreisen ins sozialistische Ausland. Diese unterschiedlichen Spielarten wie auch das in der DDR weit verbreitete Nacktbaden sieht der Autor als Beleg für den "Verlust der Definitionsmacht des FDGB-Feriendienstes" (139).
Diese Definitionsmacht büßte der staatlich organisierte Tourismus vor allem deshalb ein, weil die Reisenden ihre eigenen Vorstellungen von Urlaub und Erholung hatten und diese auch durchzusetzen wussten. Beispielhaft sei hier der Familienurlaub in der DDR genannt. Ganz nach dem sozialistischen Verständnis von Urlaub als Erholung und somit Teil der sozialistischen Lebens- und Arbeitswelt waren Ferienheime zunächst nur für "werktätige" Erwachsene vorgesehen, sie mussten sich allerdings nach und nach dem Bedürfnis nach gemeinsamen Ferien den Familien öffnen. Auch die Leiter und die Mitarbeiter in den Heimen des FDGB-Feriendienstes mussten sich diesem Wandel anpassen. Die Frage, inwiefern es der SED-Führung gelang, die DDR bei ihren Bürgern als "reizvolles und lohnenswertes Urlaubsland" zu etablieren, stellt Görlich am Ende seiner Arbeit. Mangels erreichbarer Alternativen für die Reisenden mussten geografische Zusammenhänge neu definiert werden. Wie auch in allen anderen Bereichen bedeutete der Mauerbau 1961 hier die entscheidende Zäsur: Die politische Utopie wich den dringenden Forderungen nach Verbesserung und Ausbau der Urlaubsplätze.
Zusammenfassend zeigt sich, nicht zuletzt wegen des breit gewählten Untersuchungszeitraums, der tiefgehende Wandel sowohl auf der Seite der staatlichen Organisatoren als auch auf der Seite der Reisenden selbst. Die Beschränkung der Studie auf den staatlich organisierten Urlaub verhindert allerdings den Blick auf touristische Alternativen fern der FDGB-Ferienheime. Gerade die individuellen Formen des Reisens in der DDR hätten aber den "Eigen-Sinn" stärker hervorheben können. Dennoch vermittelt Görlich einen profunden Einblick in das sozialistische Urlaubswesen der DDR. Die quellengesättigte und grundlegende Studie wird zukünftigen Forschungsarbeiten zur Tourismusgeschichte der DDR wichtige Impulse verleihen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Rüdiger Hachtmann: Tourismusgeschichte - ein Mauerblümchen mit Zukunft! Ein Forschungsüberblick, in: H-Soz-u-Kult 06.10.2011, verfügbar unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-10-001
Ders.: Tourismus und Tourismusgeschichte. Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.12.2010, verfügbar unter: https://docupedia.de/zg/Tourismus_und_Tourismusgeschichte?oldid=84660
Elke Stadelmann-Wenz