Christoph Bultmann: Bibelrezeption in der Aufklärung, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, X + 256 S., ISBN 978-3-16-151968-0, EUR 39,00
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Andres Strassberger: Johann Christoph Gottsched und die "philosophische" Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik, Tübingen: Mohr Siebeck 2010
Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009
Die Zeit der Aufklärung gilt bekanntlich als der Zeitraum, in dem die moderne, wissenschaftsspezifischen Geltungsansprüchen verpflichtete Bibelwissenschaft entstand. Mit dieser Verwissenschaftlichung der exegetischen Arbeit korrespondiert das Faktum, dass die Auslegung der Bibel sich zunehmend von der Dogmatik emanzipierte. Und auch das altprotestantische Schriftprinzip, d.h. vor allem die Lehre von der Verbalinspiration der Heiligen Schrift, verlor im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend an Plausibilität. Die Zeit der Aufklärung ist aber auch die Zeit, in der im Namen der Vernunft traditionelle Motive der christlichen Apologetik kritisch hinterfragt wurden. Vor diesem Hintergrund kommt der Frage nach der Bibelrezeption in der Aufklärung ganz unzweifelhaft eine zentrale Bedeutung für ein sachgemäßes Verständnis der zeitgenössischen kulturellen Theoriebildung zu. Dieser Thematik geht jetzt Christoph Bultmann, Professor für Bibelwissenschaften (Ev. Theologie) in seinem elf - bereits an anderen Orten veröffentlichte - Studien umfassenden Sammelband Bibelrezeption in der Aufklärung nach. Bultmanns ideengeschichtlich ausgerichteter Forschungsansatz eröffnet interessante Einblicke in den kulturellen Kontext, in dem die Rezeptionsprozesse der biblischen Texte durch Gelehrte des 18. Jahrhunderts erfolgten.
Vorbereitend fasst Bultmann sein Verständnis von Aufklärung zusammen, das ganz von der Begriffsbestimmung des Münsteraner Kirchenhistorikers Albrecht Beutel geleitet ist. [1] Aufklärung ist vor allem ein Prozess geschichtlicher Rationalisierungen oder, anders ausgedrückt, ein "kontinuierliche[r] Prozess der Kritik" (3). Ganz im Sinne von Beutels Definition der Aufklärung als Epoche versteht der Verfasser die Aufklärung als ein Zeitalter, das mit dem Ausgang des Konfessionellen Zeitalters beginnt. Theologiegeschichtlich gesehen gehört die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung, von natürlicher und positiver Religion zu den epochalen Aufgaben der Theologie in dieser Zeitepoche. Mit Hilfe dieser Verhältnisbestimmung legt Bultmann auch das Ende der Aufklärung fest. Die Aufklärung "wird als Zeitalter, ebenso aber auch als Geisteshaltung überwunden, wenn das Modell der 'natürlichen Religion' verworfen wird" (8). Dies ist für den Verfasser mit der Veröffentlichung von Friedrich Schleiermachers Buch Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern von 1799 der Fall.
In seiner ersten Studie untersucht Bultmann anhand von Spaldings Schrift Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung die Frage, was ein theologischer Klassiker ist. Ein theologischer Klassiker ist ein Werk, auf das sich die "theologische oder philosophische Kritik" einer Epoche "fokussieren" lässt. Weiterhin zeichnet sich für ihn ein Klassiker z.B. dadurch aus, dass er "ein kritisches Potential" (15) freisetzt. Johann Joachim Spalding war ganz unzweifelhaft ein bedeutender Vertreter der lutherischen Theologie in der Aufklärungszeit in Deutschland, dessen theologische Theoriebildung auf große Resonanz stieß, nicht zuletzt deshalb, weil sie zentrale Fragestellungen der Zeit aufgriff. Dies gilt auch für die Frage nach der Bedeutung der natürlichen Religion. Daher ist der Versuch, in Spaldings umfangreichen Schrifttum nach einem Klassiker zu suchen, sicherlich ein richtiger Ansatz. Zu Recht betont Bultmann, dass die "Argumentationsstruktur der Nutzbarkeit der Predigtamtes auf dem Konzept der 'natürlichen Religion'" beruht. Zugleich vertritt Spalding in seinem Werk deutlich erkennbar eine "kritische Sicht der Rezeptionstradition der Bibel" (27). Obwohl also in diesem vielgelesenen Buch die aktuellen Themen theologisch reflektiert werden, ist dieses Werk für den Verfasser "kein Klassiker der Aufklärungshomiletik, sondern das Manifest einer Selbstkorrektur der lutherischen Theologie im Licht des Konzepts der 'natürlichen Religion'" (38). Allerdings ist dieses Werk für ihn dennoch - auf einer anderen Ebene - ein theologischer Klassiker. Es ist Spaldings "Appell zu kritischer Reflexion" (38) aller theologischen Arbeit, die dieses Werk "in der Tat" zu einem "theologischen Klassiker" macht (38).
Die folgenden 10 Studien bieten einen reichhaltigen Überblick über das breitgefächerte Spektrum der Bibelrezeption und Interpretation im kulturellen Kontext der Aufklärung. Dabei liegt das besondere Augenmerk Bultmanns in allen Beiträgen auf der Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen der positiven Religion und dem religionsphilosophischen Konzept der natürlichen Religion. Prägnant arbeitet er dabei heraus, dass sich die historisch kontingenten, kulturell äußerst unterschiedlichen Schriften der Bibel nicht einfach dem Anspruch der Vernunft unterordnen ließen. Bereits im ersten Beitrag, der sich mit der hebräischen Bibel und Horaz bei Robert Lowth beschäftigt, tritt diese Problematik deutlich zutage. Zu den interessantesten Studien in dem Sammelband gehört unzweifelhaft die Untersuchung von Gotthold Ephraim Lessings Verständnis der Bibel. Dabei behandelt der Verfasser vor allem das Gedicht Die Religion (1751) und das Schauspiel Nathan der Weise (1779). Zu Recht betont er, dass Lessing die grundlegenden Überzeugungen der natürlichen Religion akzeptiert, dabei aber die "biblische Tradition nicht verworfen hat" (84). Weitere Studien beschäftigen sich mit der Frage der Toleranz bei Grotius und Lessing, dem Salomobild im 18. Jahrhunderts, dem Mosebild in der Frühen Neuzeit oder mit der Bibelkritik bei Alexander Geddes.
Christoph Bultmann gilt als ausgewiesener Fachmann der Herderforschung. [2] Daher kann es nicht überraschen, dass sich drei Studien mit dem theologischen Denken Herders beschäftigen: Bewunderung oder Entzauberung. Johann Gottfried Herders Blick auf Mose; Herders Anleitung zur Deutung der Psalmen. Ein Anstoß zur ästhetischen Würdigung der Bibel und Die Urgeschichte in Herders Geschichtsphilosophie. Anmerkungen zur Suche nach den Ursprüngen des Nationalismus. Der letztgenannte Beitrag vermittelt einen guten Überblick über das geschichtsphilosophische Denken Herders. Mit Recht betont der Verfasser, dass bei Herder die "Vergegenwärtigung des Mythologischen in der Urgeschichte [...] im Kontext der Geschichtsphilosophie zur Begrenzung des Bewusstseins des Nationalen" (183) wird. Dies hat zur Konsequenz, dass die bekannte Inanspruchnahme Herders für den Nationalgedanken korrigiert und um diesen Gesichtspunkt ergänzt werden muss.
Bultmann ist ein kluges Buch gelungen. Für die Denkanstöße darf man dankbar sein.
Anmerkungen:
[1] Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium (= UTB M; Bd. 3180), Göttingen 2009. Rezension in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11 [15.11.2009]; URL: http://www.sehepunkte.de/2009/11/16190.html[.
[2] Vgl. Christoph Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung: Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999.
Dirk Fleischer