Doris Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2038), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2012, 308 S., ISBN 978-3-518-29638-7, EUR 15,00
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"Die ehemals ehrwürdige Teildisziplin Geschichtsphilosophie findet gegenwärtig eigentlich fast nicht statt." (15) Diese auch für die Geschichtswissenschaft bedauerliche Tatsache will die Autorin mit ihrem Werk - sie hat sich damit in Tübingen für das Fach Philosophie habilitiert - ändern. Der Anspruch, an dem sie gemessen werden will, ist außerordentlich hoch: "das Wesen der Geschichte" (23) analytisch entschlüsseln. Es erschließe sich nicht aus dem Kanon eines Fachs noch aus dem, was Menschen gemeinhin als für sie historisch bedeutsam empfinden, und "grundlegend falsch" sei es anzunehmen, "dass eine Geschichte in ihrer Erzählung besteht" (25). Ebenso entschieden wie gegen die "narrativistischen Theorien in ihren verschiedenen Spielarten" (17) grenzt sie ihren Ansatz gegen alle Versuche ab, die Geschichtswissenschaft zu einer Historischen Sozialwissenschaft zu erklären. Da Geschichte "immer Geschichte von etwas" sei, etwa eines Krieges, einer Revolution, einer Nation, könne es "spezifisch historische Gesetze und Theorien [...] nicht geben." (149) Als den "eigentümlichen Gegenstand der Geschichtswissenschaften" bestimmt sie "das intentionale Handeln einer oder mehrerer Personen in einer bestimmten historischen Situation" (21). Ihre Argumentation geht von drei Kernthesen aus, die sie in den drei Hauptteilen ihres Buches detailliert diskutiert: 1. Historische Erklärungen beziehen sich "immer und ausschließlich" auf intentionale und kausale Handlungserklärungen (21); 2. Historische Ereignisse sind reale, kausal strukturierte Handlungsereignisse, die stets einen intentionalen Charakter haben; 3. "strukturelle Erklärungen [sind] implizit intentionale Erklärungen, weil intentionales kollektives Handeln eine Voraussetzung für die Herausbildung sozialer Strukturen ist." (22)
Doris Gerber verfährt in einer Weise, die Historiker befremden mag. Denn sie sucht Einsichten in das "Wesen der Geschichte" zu gewinnen, indem sie geschichtsfern argumentiert. Sie analysiert keine historischen Ereignisse, leitet nicht aus ihnen bzw. aus deren Analyse ihre Deutungen ab, sondern aus der Argumentationslogik und den Regeln, die dafür in ihrem Fach entwickelt wurden. In Auseinandersetzung mit präzise vorgestellten Forschungspositionen formuliert sie eine auf den jeweiligen Sachpunkt, den sie diskutiert, zugeschnittene These, die sie dann in analytische Schritte zerlegt, die einer logischen Kausalkette folgen. Dass so schwierige Probleme der Geschichtsschreibung eindringlich diskutiert und plausible Ergebnisse erzielt werden können, zeigt eindrucksvoll das Kapitel "Zeit, Zeiterfahrung und historische Zeit" (198ff.). Sie geht hier von Reinhart Koselleck aus, der unter den Historikern wohl am intensivsten über die Zeit nachgedacht und mit "Vergangene Zukunft" eine Formel geprägt hat, die Geschichte von ihrer Zeitlichkeit her definiert. Gerber bezieht sich zwar auf ihn, verfährt jedoch gänzlich anders. Sie analysiert nicht historisches Quellenmaterial, sondern philosophische Debatten um die Realität der Zeit seit Augustinus. Ihre eigene Argumentation entwickelt sie vor allem an J. Ellis McTaggarts Aufsatz "The Unreality of Time" (Mind 18,1908), der in der Philosophie großen Einfluss ausübt, den meisten Historikern jedoch fremd sein dürfte. Auch in den vier Bänden mit Aufsätzen Kosellecks, der ein intensives Gespräch mit der Philosophie geführt hat, wird er in den Namensregistern nicht genannt. Gerber diskutiert McTaggarts A- und B-Reihe der Zeit (vergangen, gegenwärtig oder zukünftig versus 'früher als ...' oder 'später als ...'), korrigiert seine Annahmen in einem entscheidenden Punkt und entwickelt auf dieser Grundlage eine relationale Zeitstruktur, die es ermöglicht, die "Dreiheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" (204) an den Ablauf von Ereignissen zu knüpfen. Ihre Schlussfolgerung lautet: "Wir erfahren, wenn wir Zeit erfahren, nicht Zeit an sich, sondern Ereignisse in der Zeit." (210) So kann sie, ohne auf konkrete historische Ereignisse einzugehen, darlegen, dass die "Existenz einer relationalen zeitlichen Struktur, die unabhängig von unseren Erfahrungen determiniert ist, [...] ein wesentlicher struktureller Bestandteil des realen historischen Geschehens ist." (212)
Das mag genügen, um anzudeuten, was ich mit einer Argumentationslogik meine, die zu grundlegenden kategorialen Aussagen über die Struktur der Geschichte führt, ohne sie aus geschichtlichen Ereignissen und den Quellen, die dafür zur Verfügung stehen, abzuleiten. In dieser Weise setzt sich die Autorin auch mit jenen Historikern auseinander, die im Erzählen von Ereignissen und nicht in den Ereignissen selbst historischen Sinn konstituiert sehen. Sie hingegen betont: Geschichte ist "ein reales Geschehen", "das eindeutig bestimmt ist, unabhängig davon, was wir darüber wissen oder glauben." (198). "Die semantische Bedeutung ist eine Eigenschaft von Aussagen und die historische Bedeutung ist eine Eigenschaft von Ereignissen." (228) Die narrativistische Konstruktion von Geschichte beruhe hingegen auf der "Konfusion der Differenz zwischen semantischer und historischer Bedeutung". Die Narration bestimme jedoch "nicht die Struktur der vergangenen Ereignisse selbst, sondern unser Wissen und unser Verständnis dieser Ereignisse. Dass wir uns ein Bild von der Geschichte machen und sie nur so verstehen können, bedeutet nicht, dass die Geschichte dieses Bild ist." (228f) Die "historische Bedeutung eines Ereignisses" werde "durch die kausale Rolle dieses Ereignisses vollständig determiniert" (230).
Es kann nicht verwundern, dass aus dieser Position eines "historischen Realismus" (198) von Jörn Rüsens Ansatz, der zumindest in der deutschen Geschichtswissenschaft erhebliche Resonanz gefunden hat, wenig übrig bleibt. Sie spricht von einer "für einen Historiker erstaunlichen Ignoranz gegenüber den realen Erfahrungen der in einem historischen Kontext Handelnden" (221). Zu diesem Urteil kommt sie, indem sie seine theoretischen Annahmen überprüft, nicht indem sie diese auf konkrete historische Fälle bezieht. Die Prüfinstanz ist nicht das geschichtliche Ereignis, sondern die Logik der Argumentation. Deshalb sind ihre wichtigsten Gesprächspartner in diesem Buch Philosophen und nicht Historiker. Doch sie diskutiert auch geschichts- und sozialwissenschaftliche Texte. Für letztere zieht sie u.a. Anthony Giddens heran. Ihre Kritik an seiner Trennung von intentionaler "Handlung" (action) und nicht-intentionalem "Handeln" (agency, doing) mündet in eine allgemeine Kritik an der "fast mantrahaft wiederholten Behauptung vieler Sozialwissenschaftler, dass die Tatsache, dass Handlungen nicht intendiert Folgen haben können, von großer Bedeutung sei" (275). Um zu erkennen, wie soziale Institutionen entstehen, seien jedoch nicht die nicht-intendierten Folgen intentionaler Handlungen von theoretischer Bedeutung, sondern es gelte, "kollektive Handlungen" als einen "Typ von intentionalen Handlungen" zu bestimmen, "deren Träger zwar die handelnden Individuen sind", ohne jedoch in deren individuellem Handeln aufzugehen. (276) Diesem Problem wendet sie sich im dritten Hauptteil ihres Werkes unter der Überschrift "Historische und soziale Realität" zu. Vor allem er ist Historikern, die theoretische Aufschlüsse für ihr Tagesgeschäft suchen, zu empfehlen.
Doris Gerber geht von "drei Typen oder Formen von Handlungen" (250) aus:
1. Individuelle Handlungen, die zwar sozialen und kulturellen Regeln folgen, in der konkreten Handlungssituation jedoch von anderen Personen nicht abhängig sind.
2. Soziale Handlungen, die auf andere Personen bezogen sind und von ihnen abhängen, doch in der konkreten Interaktionssituation geschehe eine "nur partielle und nicht vorbehaltlose" Kooperation.
3. Kollektive Handlungen zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Vollzug von anderen Personen abhänge und somit "der gesamte Handlungsablauf durch kooperatives Handeln durchgängig und vorbehaltlos geprägt ist." (251) Während soziale Handlungen "lediglich eine Handlungssituation oder einen Handlungskontext" schaffen (255), konstituieren kollektive Handlungen, denen stets kollektive Intentionen zugrunde liegen, eine gemeinsame Handlung mehrerer Personen. In detaillierter Kritik argumentiert Gerber, dass in der sozialen Wirklichkeit, die Giddens entwirft, nur individuelle und soziale Handlungen vorkommen, nicht aber kollektive. Doch kollektive Handlungen, so eine ihrer zentralen Thesen, sind "die primären Konstituenten der sozialen Wirklichkeit". Sie "bilden allererst die Grundlage für individuelles und soziales Handeln" (276), und sie sind es, die soziale Strukturen schaffen.
Von hier aus und zurückgreifend auf ihre Analyse von historischer Zeit kritisiert sie in einem weiteren argumentativen Schritt Kosellecks Annahme eines Hiatus zwischen Ereignis und Struktur. Ihre Gegenposition lautet: "Strukturelle Erklärungen sind implizite intentionale Erklärungen." (291) Der "Begriff des Ereignisses [sei] der primäre und grundlegendere Begriff", denn "Ereignisse konstituieren eine Geschichte", während Strukturen eine Geschichte haben, die "wiederum von nichts anderem als von Ereignissen konstituiert" werde (290). Gerber bezweifelt nicht den Erkenntniswert struktureller Erklärungen, doch sie sieht in ihnen keinen "Gegenspieler zu intentionalen Erklärungen. Das können sie schon deshalb nicht sein, weil Strukturen ohne Intentionalität gar keine Wirklichkeit haben können." (292). Leider nimmt sie in ihrer Auseinandersetzung mit Koselleck nicht die drei Typen von Geschichtsschreibung in den Blick, mit denen dieser grundsätzlich die Möglichkeiten der Geschichtsschreibung zu bestimmen sucht: "das Auf-, das Fort- und das Umschreiben der Geschichte". Mit ihnen beansprucht Koselleck, die "temporalen Strukturen geschichtlicher Erfahrung auf die Arten ihrer Erzählung, ihrer schriftlichen Darstellung und ihrer methodischen Verarbeitung" zu beziehen. [1] Man wird darin das Zentrum von Kosellecks Historik sehen dürfen. Daran geht die Autorin vorbei.
Warum nennt Gerber ihr Buch eine analytische Metaphysik der Geschichte? Wie grenzt sie diese von den älteren Formen der Geschichtsphilosophie ab? Diese Fragen nimmt sie in der kurzen Schlussbetrachtung nochmals auf. Was Geschichte ist, lasse sich nicht aus methodologischen Argumenten ableiten, dazu bedürfe es auch weiterhin der Metaphysik. Eine analytische Metaphysik suche jedoch anders als die klassische Geschichtsphilosophie im historischen Geschehen keinen metaphysischen Sinn, sondern es gehe ihr darum, "die Bestandteile eines geschichtlichen Geschehens zu analysieren, das als Geschichte real existiert." (293) Damit benennt Gerber erneut den Zentralpunkt, um den sich ihre analytische Metaphysik der Geschichte dreht: Geschichte ist keine Konstruktion, sie wird nicht im Erzählen von Menschen erschaffen, sondern in deren Handlungen. Denn "Geschichte ist nicht das Bild, das wir uns von der Vergangenheit machen, sondern sie existiert unabhängig davon" (294). Die geschichtswissenschaftlichen Kontroversen werden über die "Wahrheit dieser Bilder" (294) geführt. Die unterschiedlichen Methoden, die in Studien über historisches Geschehen gewählt werden, bieten unterschiedliche Wege der Annäherung an dieses Geschehen. Die Erklärungen, die gefunden werden, sind immer nur "mehr oder weniger gut" - dem ist ein eigenes Kapitel gewidmet -, denn angesichts der "komplexen Handlungszusammenhänge in historischen Kontexten" bieten sie stets nur Annäherungen an die "kausale Geschichte eines Ereignisses". (159f.)
Doris Gerber geht in ihrer Analyse vom handelnden Subjekt aus. "Die Möglichkeiten, die Geschichten haben, sind die Möglichkeiten, die ihre Subjekte haben." (296) Deren Intentionalität sucht sie auch in den sozialen Strukturen auf. Kollektive Phänomene und Intentionalität gegeneinander zu stellen, hält sie für einen schweren theoretischen Fehler. Er komme der "praktischen Neigung" der Menschen entgegen, sich aus der Verantwortung für die Geschichte "davonzustehlen" (297). Das wird in dem Buch nicht weiter ausgeführt. Es steht als Feststellung an dessen Ende. Doch verbindet man diesen Schluss mit der Eingangswidmung an ihren Vater, "der zeitversetzt / an einem Krieg zerbrach / den er niemandem / verzeihen konnte", so wird deutlich: diese analytische Metaphysik der Geschichte wirbt, die subjektive Verantwortung für das Geschehene anzunehmen. Der Mensch ist das Subjekt der Geschichte, nicht von ihm abgelöste Strukturen. Es stünde dem Fach Geschichtswissenschaft gut an, sich mit diesem geschichtsphilosophischen Werk gründlich auseinandersetzen.
Anmerkung:
[1] Reinhart Koselleck: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main 2000, 27-77, 41.
Dieter Langewiesche