Kumkum Chatterjee: The Cultures of History in Early Modern India. Persianization and Mughal Culture in Bengal, Oxford: Oxford University Press 2009, XI + 290 S., ISBN 978-0-19-569880-0, GBP 23,99
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Dank Stephan Conermanns Studie zur Historiographie der Moguln ist der narrative turn mittlerweile auch auf diesem Forschungsfeld angekommen. [1] Bedauerlicherweise konnte sich dieser Ansatz noch nicht stark genug durchsetzen, denn beschäftigt man sich genauer mit der Geschichtsschreibung über die Moguln fällt schnell auf, wie sehr der koloniale Diskurs die Übersetzungen der Mogulquellen nach wie vor dominiert, da der Großteil der Reichschroniken durch englische Privatgelehrte des 19. und 20. Jahrhundert übersetzt wurde. [2] Zwar leisteten diese oftmals Pionierarbeit, viele Übersetzungen waren jedoch von geringer Qualität und konnten sich nicht vom britischen Herrschaftsdiskurs trennen. [3] So wurde ein frühneuzeitliches indisches Narrativ konstruiert, das den herrschenden Briten von großem Nutzen war und schnell erzählt ist: Zu Beginn regierten die Moguln noch tolerant, verfielen jedoch ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in eine orthodox-islamische Regierungspraxis, wodurch sie zahlreiche nicht-muslimische Herrscher gegen sich aufbrachten und es den Engländern so erheblich erleichterten, die Macht in Indien zu übernehmen.
Diese Auslegung der indischen Geschichte kam auch einigen einflussreichen Hindu-Gelehrten des 19. Und 20. Jahrhunderts entgegen, die in ihren Übersetzungen und historiographischen Studien die ideale Herrschaftslegitimation für die Briten lieferten: der tempelzerstörende, fanatische Muslim auf der einen Seite, der exotische Hindu als Opfer auf der anderen Seite, der von den Briten nicht nur vor den Muslimen beschützt, sondern auch noch zivilisiert werden müsse. In seinem Monumentalwerk über die Herrschaftszeit von Aurangzeb [reg. 1658-1707] entfaltete beispielsweise [Sir] Jadunath Sarkar genau dieses Bild des ultra-orthodoxen muslimischen Potentaten. Und noch während sich Indien 1947 in den Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit von den Briten befand, erschien im Verlag der Royal Asiatic Society die bis heute aktuelle Standardübersetzung der wichtigsten Chronik über Aurangzeb. [4] In eben dieser Studie wertet Sarkar nicht nur in auffallend geringschätzigem Ton die 70 Jahre zuvor fertiggestellte Edition seines muslimischen Vorgängers ab, vielmehr versucht er durch eine manipulative Auslegung der Quelle [falsche Übersetzungen, Streichen von wichtigen Textpassagen, irreführende Überschriften, etc. ...] noch einmal das Grundübel der muslimischen Präsenz in Indien heraufzuschwören.
Man könnte jetzt eigentlich erwarten, dass der Großteil der Mogul-Forschung im Zuge des postcolonial turn sich dieser Tendenzen bewusst geworden sei; dem ist erstaunlicherweise aber nicht so. Dies wird etwa in dem erst 2012 von Rosalind O'Hanlon und David Washbrook herausgegebenen Sammelband Religious Cultures in Early Modern India: New Perspectives deutlich. [5] Während hier führende anglo-amerikanische Wissenschaftler/innen, so z.B. Muzaffar Alam [Chicago] und die Herausgeberin Rosalind O'Hanlon [Cambridge], tatsächlich neue Herangehensweisen an die Quellen präsentieren, hält der Artikel vorn Heidi Pauwel dieses Niveau leider nicht. Ohne auch nur ansatzweise die Gesamtstruktur der Quellen, die Entstehungszeit bzw. die multiple Autorenschaft etc. zu berücksichtigen, wird hier unbesehen aus der Übersetzung Sarkars zu den Schriften die über Aurangzeb's Herrschaft berichten zitiert, um dessen angeblich religiösen Fanatismus und Hindufeindlichkeit zu untermauern und das eingangs erwähnte früh-neuzeitliche indische Narrativ erneut vorzubringen. [6]
Glücklicherweise setzt sich die zu besprechende vorliegende Untersuchung von diesen Tendenzen deutlich ab. Wie ein roter Faden zieht sich durch Kumkum Chatterjees (1958-2012) Forschung der Appell, vorkoloniale, historiographische indische und indo-persische Texte nicht allein mit dem rational-kritischen Blick westlicher Wissenschaften zu analysieren, um nur nach dem Faktualen, also der Bühnengeschichte, zu suchen. Vielmehr müssten wir uns auch einen anderen Blick zulegen, um diese Texte angemessen in ihr kulturelles und politisches Umfeld einordnen und interpretieren zu können.
Zwar war Chatterjee nicht direkt an der Textures of Time-Debatte beteiligt, die zwischen den Autoren Velcheru Narayana, David Shulman, Sanjay Subrahmanyam und dem Rezensenten Sheldon Pollock 2007 in History and Theory abgehalten wurde, doch unterstütze sie die Argumentation der Diskutanten in ihren Artikeln und in der vorliegenden Studie. [7] Die Kernfrage der Auseinandersetzung war, wie wir vorkoloniale, indigene Texte erfassen und deuten können, die nach den Kriterien der professionell-rationalen westlichen Geschichtswissenschaften zwar als a-historische Texte eingeordnet werden, von den ehemaligen Autoren jedoch genau zu diesem Zweck verfasst wurden: nämlich die Vergangenheit mit den ihnen zur Verfügung stehenden spezifisch-kulturellen Erzähltechniken sinnstiftend erklären zu können.
Chatterjees Studie ist in diesem Zusammenhang wegweisend und sei jeder und jedem Studierenden unbedingt empfohlen, der sich für frühneuzeitliche Historiographie und die politischen Kulturen vormoderner islamischer Imperien interessiert. Zwar streitet sie keinesfalls den Einfluss des britisch-kolonialen Bildungswesens auf die indische Mittelschicht ab; auch akzeptiert die Autorin die Differenz zwischen westlich-professioneller Geschichtswissenschaft und indigenen, vorkolonialen Methoden der Geschichtsdarstellung und verfällt somit nicht in die Argumentation eines romantischen Konzepts der Geschichte, welches völlig losgelöst von jeglicher Methodik funktionieren soll (ausführlich in der Einleitung, vor allem auf den Seiten 4-5). Denn Chatterjee unterstreicht ausdrücklich, dass vorkoloniale Chronisten sehr wohl spezifische Methoden einsetzen, um ihr Publikum von ihrer jeweiligen Sicht auf die Geschichte zu überzeugen. Vor diesem Hintergrund fordert sie eine neue Herangehensweise an ihre Texte. Anstatt also die Darstellungen von Wundern, Heldensagen etc. von vornherein als historisch nutzlos abzustempeln, so Chatterjee, sollten wir uns vielmehr fragen, welche Bedeutung die jeweiligen Textpassagen hinsichtlich der narrativen Strategie des Autoren hat, warum welche spezifischen kulturellen Symbole an welcher Stelle des Textes verwendet werden oder ob sich eventuell auch eine politische Agenda hinter dem Text verbirgt.
Chatterjees Quellenmaterial sind bengalische, Sanskrit-, indo-persische und englische historiographische Schriften, die größtenteils zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert in Bengalen unter der Herrschaft der Moguln bzw. Briten verfasst worden sind. Konsequent zieht sich ihr Hauptargument durch die Einleitung, die sechs Kapitel und das Fazit: "Yet it would be erroneous to believe that considerations of authority, legitimacy and proof were absent from these materials" (249) und "[...] early modern historiography followed protocols of authority, evidence, and method which were different, but not absent." (251)
In jedem Kapitel schafft es Chatterjee, festgefahrene historische Narrative, die immer wieder in aktuellen politischen Debatten instrumentalisiert werden, zu widerlegen. Im ersten Abschnitt (Mapping Early Modern Bengal: Polity, Culture, and the Literary Universe, 24-62) wird deutlich, dass der so lang verklärte Widerstand des bengalischen Landadels gegen die Moguln keinesfalls einheitlich war. Vielmehr stellt sich heraus, dass vor allem durch das gezielte Einsetzen der persischen Sprache, Kultur und Hofhaltung die Moguln gegenüber ihren neuen bengalischen Untertanen keinesfalls nur als Unterdrücker und fundamentale Muslime auftraten; und so schien das 'Empire' auch seine guten Seiten zu haben, weshalb sich bengalische gentry und Hochadel oftmals gerne und freiwillig die neuen und verheißungsvollen kulturellen Güter der Moguln aneigneten. Der Einfluss der Moguln auf die bengalische Geschichte und Kultur muss also als wesentlich höher angesehen werden als bisher angenommen. Dies hat Chatterjee auch noch einmal überzeugend in ihrem letzten Aufsatz hervorgehoben. [8] Hier - wie auch in der vorliegenden Studie - wird einmal mehr deutlich, wie vielschichtig vorkoloniale historiographische Texte sind und wie viel Nutzen und neue Ergebnisse eine innovative Herangehensweise an dieses Quellenmaterial hervorbringt. Der gern ins Spiel gebrachte clash der Religionen und Kulturen im vorneuzeitlichen Indien war keinesfalls so eindeutig, wie ihn etwa Jadunath Sarkar in seinen Studien darstellt: "Bengali narratives from the seventeenth and eighteenth centuries contain eulogies to the distant Mughal emperors who are compared to and equated with Hindu divinities and epic heroes. Akbar is compared to Arjuna and Brihaspati and even Aurangzeb is compared to Ramachandra. Resonances of this are also found in other parts of India." [9]
Würde man diese Texte also alleine an ihrer Historizität messen, würde man genau solche Ergebnisse nicht erzielen: "[...] The resolution of doubt [regarding the factual accuracy of the narrative] was not the principal objective, but rather, its pleasing literary qualities." (249) [10]
Hinzu kommt, dass wir mit der klassischen westlichen Methodik auch die vielen Schichten dieser Texte übersehen würden. 1808 beendete beispielsweise Mrityunjoy Bidyalankar sein Rajabali, ein faszinierender Beleg dafür, wie unterschiedlichste literarische Genres, historiographische und kulturelle Traditionen in einem Text untergebracht wurden. (144-149) Auch müssen wir uns von dem Gedanken lösen, so die Autorin, dass sich mit dem Beginn der britischen Herrschaft die rein rational-akademische Auslegung der Geschichte durchsetzte, die dann allein zum Handwerk einiger professioneller Gelehrte wurde. Denn nicht nur in Europa des 19. Jahrhunderts waren die akademische Geschichtsschreibung und die romantische bzw. populär-wissenschaftliche Darstellung von Geschichte eng miteinander verbunden - vielmehr behauptete sich auch in Indien eine von der britisch-europäischen Auslegung unabhängige Interpretation der Geschichte: "(...) early modern historiographic practices have not atrophied with the advent of rational, scientific, academic history. These continue to exist in the interstices of popular historical writing, historical films, plays, and novels, sometimes challenging, sometimes corroborating the findings of professional historians." (258)
An manchen Stellen hätte man sich eine detailliertere Analyse beispielsweise der fiktionalen Elemente innerhalb der Texte gewünscht bzw. eine genaue Methodik, was denn nun mit diesen Textstellen anzufangen sei. Da dies aber gar nicht die leitende Intention der Autorin war, kann dies nachfolgenden Studien überlassen werden. Vielmehr zielte Chatterjee darauf ab, einmal mehr Grundlagenarbeit zu leisten - so wie sie es ihr ganzes wissenschaftliches Leben lang getan hat. Und so liegt hier die wohl wichtigste und ausführlichste Studie nach der Texture-of-Times-Debatte vor, angereichert mit den neusten Ergebnissen aus der Forschung und der jahrelangen Expertise Chatterjees - Kumkum Chatterjees Tod im vergangenen Winter hinterlässt nicht nur tiefe Trauer bei den Angehörigen - auch die Mogul-Forschung verliert viel zu früh ihre wohl bedeutendste Vertreterin.
Anmerkungen:
[1] Stephan Conermann: Historiographie als Sinnstiftung, Wiesbaden 2002. Siehe hierzu auch die Rezension im vorliegenden Buch zu Muzaffar Alam und Sanjay Subrahmanyam's Writing the Mughal World.
[2] Wichtige Studien diesbezüglich sind Rama Sundari Mantena: The Origins of Modern Historiography in India. Antiquarianism and Philology, 1780-1880, New York 2012 und - ebenfalls gerade erschienen - Peter Gottschalk: Religion, Science and Empire. Classifying Hinduism and Islam in British India, Oxford 2012.
[3] Siehe hier die ausführliche Einleitung von Nader Purnaqcheband: Strategien der Kontingenzbewältigung. Der Mogulherrscher Humāyūn [r. 1530-1540 und 1555-1556] dargestellt in der "Taẕkirat al-Waqiʿāt" seines Leibdieners Jauhar Āftābčī, Schenefeld 2007.
[4] Jadunath Sarkar [transl.]: Maāsir-i-ʿĀlamgiri. A History of the Emperor Aurangzīb-ʿĀlamgir [reigned 1658-1707 A.D.] of Sáqi Mustʿad Ḫān, Calcutta 1947; s. auch - gerade wieder aufgelegt - idem: The Fall of the Mughal Empire, Hyderabad 2007.
[5] Rosalind O'Hanlon / David Washbrook [eds.]: Religious Cultures in Early Modern India. New Perspectives, London 2012.
[6] Heidi Pauwels: A Tale of two Temples: Mathurā's Keśavadeva and Orcchā's Caturbhujadeva, in: ibid.,146-168.
[7] Velcheru Narayana Rao/David Shulman/Sanjay Subrahmanyam: Textures of Time. Writing History in South India 1600-1800, Delhi 2001; die Debatte entstand dann durch den Rezensions-Artikel Sheldon Pollocks, idem: Pretextures of Time, in History and Theory [2007], Vol. 46, Nr. 3, 366-383; Die Antwort der Autoren, idem: A Pragmatic Response, in: ibid., [2007], 409-427.
[8] Kumkum Chatterjee: Goddess Encounters. Mughals, Monster and the Goddess in Bengal, in: Modern Asian Studies, May 2013, 1-53, 45; siehe auch Jorge Flores: Distant Wonders: The Strange and the Marvellous between Mughal India and Habsburg Iberia in the Early Seventeenth Century, in: Comparative Studies in Society and History Vol. 49, No. 3 [July 2007], 553-581.
[9] Kumkum Chatterjee: Goddess Encounters, 574.
[10] Chatterjee zitiert hier Gautam Bhadra: Jaal Rajar Katha. Bardhamaner Pratapchand, Calcutta 2002, 33.
Tilmann Kulke