Christian Kayser: Die Baukonstruktion gotischer Fenstermaßwerke in Mitteleuropa (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; 93), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2012, 560 S., 530 Farb-, 586 s/w-Abb., ISBN 978-3-86568-758-6, EUR 99,00
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Mittelalterliches Maßwerk und musivische Glasmalerei gehören zusammen, werden aber gern unabhängig voneinander untersucht. Mit unterschiedlichem Aufwand. Der umfangreichen Bestandsdokumentation der Glasmalereien in den ausgezeichneten Bänden des Corpus Vitrearum Medii Aevi steht auf Seiten des Maßwerks eine grundlegende Bestandsaufnahme der erhaltenen mittelalterlichen Maßwerke noch aus. Die "maßgebenden Referenzen" (9) von Behling (1944), Binding (1989) und Helten (2006) zum mittelalterlichen Maßwerk [1] ergänzt nun Christian Kayser mit seiner Münchner Dissertation bei Rainer Barthel um eine übergreifende bautechnische Untersuchung und lenkt damit den Blick auf "all die praktischen und technischen Aspekte, die Errichtung und Bestand der Kunstform erst ermöglichen" (11).
Von allen überlieferten bauzeitlichen Darstellungen des Mittelalters sei das Skizzenbuch des Villard de Honnecourt um 1225/30 "das einzige Beispiel, das alle Informationen für die vollständig nachvollziehbare Konstruktion eines Maßwerkfensters beinhaltet" (38). Gemeint ist die Zeichnung des ersten Maßwerkfensters im Chor der Kathedrale von Reims. Villard zeichnet es in seiner Einbindung in das Vorlagensystem und klappt den zugehörigen Pfostenquerschnitt dabei entgegen unserer heutigen Darstellungskonvention nach oben statt nach unten. Kayser interpretiert die noch von Hans Hahnloser als Steinmetzzeichen gedeuteten Symbole auf den Werkstücken des Maßwerks überzeugend als "Detailzuordnungen" im Sinne eines neuzeitlichen Konstruktionsplanes (25). Ob Villard in Reims aber "tatsächlich ein tagesaktuelles Gefüge" (24) abbildet und nicht vielmehr wie beim Strebewerk eine geometrisch regularisierte Fassung wiedergibt, muss hingegen offen bleiben, Villard selbst macht bekanntlich keine Angaben dazu, sondern merkt eben nur an, dass er es gezeichnet habe, "weil es mir am besten gefiel".
Dies gilt ebenso für Villards "eigentümlichen, komplexen Fugschnitt für die Chorkapellen" von Reims, Kayser spricht von "zimmermannsmäßiger Ausbildung der Fugen" (84) und verwirft auch die Abhängigkeit vom komplexen Fugensystem der Lausanner Südrose. Vor allem aber bindet er in diesem Herzstück seiner Arbeit unter dem Titel "Bauelemente und Konstruktionen" die Einzelanalysen erstmals in einen größeren vergleichenden Rahmen ein, der überhaupt die Vielfalt der Lösungen im 13. Jahrhundert aufzeigt und dokumentiert. "In Hinblick auf den Aufwand, der sich aus der Herstellung großformatiger Pfosten mit unregelmäßigem Steinschnitt ergab, verwundert es nicht, dass diese Technik spätestens ab 1300 von einem vereinfachten, vergleichmäßigten Standardverfahren abgelöst wird. [...] Eines der frühesten (die früheste?), noch archaisch anmutenden Anwendungen des Standardverfahrens findet sich an den um 1280-90 errichteten Bauteilen des Meißner Domes, an dem nördlichen Seitenschiff und der benachbarten Allerheiligenkapelle: die Stabwerkspfosten bestehen nach wie vor aus gewaltigen, über zwei Meter hohen en-délit-Werkstücken - allerdings mit nivellierten Fughöhen, gleichmäßigen Steinformaten, und durchlaufenden primären Quereisen!" (49f.) Mit dem Umbruch der Stabwerkskonstruktion zum "Standardverfahren" ändert sich auch der Glasanschlag: die Glastafeln werden nicht mehr an den Pfosten befestigt, sondern von querlaufenden Eisen als Nebenträgern gehalten und der nun vorherrschende L-Anschlag ermöglicht einen raschen Ein- und Ausbau der Fenster (69). Auch der Wechsel des Fensteranschlags wird thematisiert: am Obergaden ist der Glasanschlag zumeist außen, im Seitenschiff innen; Kayser denkt mit Hubel und Schuller an einen Zusammenhang zwischen der Anordnung des Anschlags und der Zugänglichkeit über ein Laufgangsystem, in Reims in den Seitenschiffen innen und am Obergaden außen (70). Dies alles sind keine Detailfragen, Versatz und Profil von Pfosten und Gewände berühren ganz unmittelbar zentrale Fragen der Bauanalyse, auch der Glasmalerei, wie zuletzt Guido Siebert am Beispiel des Naumburger Westchors aufzeigen konnte. [2]
Wenn es Kayser gelingt, dies anschaulich und allgemeinverständlich darzustellen, so ist dies auch der opulenten Bildausstattung des Bandes geschuldet, vor allem aber den ganz ausgezeichneten Modellzeichnungen der jeweils auftretenden Vertikal- und Horizontalkräfte, der statistischen Diagramme etwa des Verhältnisses von Windlast zu Pfostentiefe im Zeitraum von 1220 bis 1530 und schließlich der grafischen Schemata der Maßwerke. Letztere zeigen durchgängig den Aufbau der Maßwerke in ihrer Abfolge der verschiedenen Ebenen, unterscheiden zwischen erster, zweiter, dritter Ordnung und geben den je eigenen Fugenschnitt an. Kayser gibt damit den Maßstab für die zukünftigen Darstellungsmodi mittelalterlichen Maßwerks.
Der abschließende, ausgezeichnete und sehr umfangreiche Katalog (270-537) folgt diesen Vorgaben und gibt für jeden Eintrag Maße, Datierung, gegebenenfalls Bestand und Erhaltung an. Die rasche Lokalisierung der behandelten Maßwerke am Bauwerk ermöglicht eine entsprechende Markierung im beigegebenen Grundrissdiagramm, alle Ansichts- und Profilzeichnungen folgen festen angegebenen Maßstäben von 1:10 bis 1:50. Die Auswahl der Beispiele hat einen Schwerpunkt im 13. Jahrhundert, die Abfolge ist chronologisch. Sie beginnt um 1205 bei der Querhausrose der Kathedrale in Lausanne und endet um 1525 mit der sogenannten Kaiserkapelle des Freiburger Münsters, aufgenommen wurden weiterhin Maßwerke in Reims, Toul, Trier, Marburg, Haina, Fritzlar, Magdeburg, Lippstadt, Naumburg, Pforta, Halberstadt, Meissen, Straßburg, Wimpfen im Tal, Köln, Minden, Chorin, Maulbronn, Xanten, Ebrach, Saal (Vorpommern), Bad Doberan, Lübeck, Salem, Regensburg, Brandenburg, Walkenried, Prenzlau, Schwäbisch-Gmünd, Prag, Altenberg, Augsburg, Basel, Erfurt, Ulm, Stralsund, Eichstätt, Aachen, Saalfeld, Herford, Wetzlar, Nördlingen, Salzburg, Dinkelsbühl, Memmingen, München, Pfaffenhofen an der Ilm, Landsberg am Lech, Bern, Passau und Merseburg. Man mag diesen ausgezeichneten Katalog von Kayser räumlich erweitern wollen, vielleicht sollten aber auch die formgenerierenden Aspekte der Baukonstruktion mittelalterlicher Maßwerke auf der Grundlage der von Kayser vorgelegten Untersuchung neu überdacht werden, vielleicht auch einmal zusammen mit den Vertretern der Glasmalerei, das Kampfgewicht der Publikation von 3700 Gramm gibt dazu alle Hoffnung.
Anmerkungen:
[1] Lottlisa Behling: Gestalt und Geschichte des Maßwerks, Halle 1944; Günther Binding: Maßwerk, Darmstadt 1989; Leonhard Helten: Mittelalterliches Maßwerk. Entstehung - Syntax - Topologie, Berlin 2006.
[2] Guido Siebert: Die Glasfenster im Naumburger Westchor - Gleichzeitig mit dem Mauerwerk versetzt? Sowie ein unbeachteter Hinweis auf die älteste Verglasung des Naumburger Domes, in: Holger Kunde / Regine Hartkopf: Dombaumeistertagung Naumburg 2011, Tagungsband, Petersberg 2012, 76-85.
Leonhard Helten