Nile Green: Indian Sufism since the Seventeenth Century. saints, books and empires in the Muslim Deccan, London / New York: Routledge 2006, XXIII + 210 S., ISBN 978-0-415-39040-8
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Die 2006 herausgegebene Studie Indian Sufism since the Seventeenth Century: saints, books and empires in the Muslim Deccan von Nile Green, als sein erstes Buch entstanden aus seiner 2002 an der SOAS eingereichten PhD-thesis, gehört zu den zentralen Studien im Bereich der Forschung zu Sufischem Islam in Indien. 2009 wurde das Buch als Paperback erneut aufgelegt. Es ist als 18. Band der Routledge Sufi Series erschienen. Der Autor Nile Green ist heute Professor an der UCLA, Department for History. Seine Forschungsinteressen sind so vielfältig wie seine Publikationsliste lang und erstrecken sich von Islam (insbesondere Sufismus) auf dem Subkontinent über frühe und moderne Geschichte der Region Indien, Pakistan, Afghanistan und Iran bis hin zu Fragestellungen, die Islam im Zusammenhang von Globalgeschichte analysieren. Nile Green ist darüber hinaus Direktor des UCLA Program on Central Asia und Mitglied des Redaktionsausschusses des International Journal of Middle East Studies.
Beginnend mit der Eroberung des Dekkan durch das Mogulreich bis hin zum Zusammenbruch des Staates von Hyderabad nach der indischen Unabhängigkeit 1947, zeichnet der Autor in fünf Kapiteln die Entwicklung sufischer Frömmigkeit in der Region, speziell in der Stadt Awrangābād nach. Dabei konzentriert er sich auf das Leben und die spätere Entwicklung der Schreine von vier lokalen Sufi-Šaiḫs, die sämtlich zu Beginn der Expansion des Mogulreiches im Dekkan lebten und wirkten. Seinen Ansatz begründet er im Vorwort mit einer in der älteren Forschung bestehenden Abwertung sufischer Heiligenverehrung zu einem "Sufismus zweiter Klasse", einem "weltlichen" Sufismus, der gegenüber einem als höherwertig angesehenen philosophisch geprägten Sufismus als minderwertig und damit nicht von Interesse für die Forschung abgeurteilt werde. Er sieht als Grund für dieses dichotome Verständnis die Tatsache, dass die Forschung sufische Phänomene abgetrennt von ihrem sozialen Kontext betrachtet habe. Sein Ziel ist es, mit seiner Studie diese Forschungslücke zu füllen und das Zusammenspiel von sozialer Realität und transzendenten Idealen sufischen Lebens in Zusammenhang zu setzen mit der Kulturgeographie und der Kulturgeschichte ihrer Lebensräume. Bereits hier sei angemerkt, dass Nile Greens Monographie dieses Ziel mehr als erfüllt.
Die Monographie ist in fünf Kapitel aufgeteilt, die von einem die Konzeption des Bandes thematisierenden Vorwort und einem Fazit gerahmt werden. Eine Karte sowie ein Glossar erleichtern auch dem interessierten Laien das Verständnis, was der Konzeption der Routledge Sufi Series entspricht, die sowohl Fachpublikum als auch interessierte Laien ansprechen will. Die Bibliographie zeigt eindrücklich die Menge der vom Autor konsultierten Primärquellen, ein ausführlicher Index macht das Werk leicht erschließbar. Die Kapitel decken jeweils einen abgegrenzten Zeitraum ab: Kapitel eins befasst sich mit der Lebzeit der vier Šaihs unter der Herrschaft des sich seinem Ende zuneigenden Mogulreiches. Kapitel 2 widmet sich der Entwicklung der Schreine unter der frühen Asaf Jāhī-Dynastie, Kapitel 3 setzt den Fokus auf die Zeit des Nizāmī-Reiches von Hyderābād und die zunehmende britische Einflussnahme, Kapitel 4 beleuchtet das Schicksal der jeweiligen Traditionen während der Zeit des Umsturzes bis zur Great Rebellion 1857 und ihrer Nachwehen, Kapitel 5 schließlich thematisiert die Entwicklung der Traditionen und Schreine im neu entstandenen unabhängigen Indien. Der Aufbau der Kapitel ist einheitlich gestaltet, sodass ein Vergleich der einzelnen nachvollzogenen Phänomene dem Leser erleichtert wird. Im ersten Kapitel gibt der Autor zunächst einen fundierten Überblick über die historischen und sozialen Hintergründe der im Folgenden analysierten Phänomene. Nachdem er die Geschichte der Stadt Awrangābād unter ihren wechselnden Herrschern nachvollzogen hat, stellt er die enorme Vielfalt sufischen Lebens in Awrangābād, die Herkunft der verschiedenen Šaiḫs und Traditionen sowie die Rolle der khanaqas in der Gesellschaft dar. Da sufische Präsenz in Awrangābād sowohl Mitwirkung im sozialen und caritativen Leben der Stadt als auch den Kontakt und den Aufbau von Vernetzung mit der herrschenden Schicht bedeutete, interpretiert Green dabei die Institution des Šaiḫs als Bindeglied und Vermittler zwischen einfachem Volk und Mächtigen. Der Mittelteil des ersten Kapitels ist in drei Abschnitten dem Leben und Wirken der im Zentrum der Untersuchung stehenden Šaiḫs, nämlich dem unabhängigen Šāh Nūr Hammāmi (Hamadānī) (gestorben 1104/1692), den beiden Naqšbandīs Šāh Palangpōsh (gestorben 1110/1699) und Šāh Musāfir sowie dem Čištīyya-Šaiḫ Nizām al-dīn Awrangābādī (gestorben 1142/1729) gewidmet. Der Autor schöpft bei der Darstellung der Lebenswege aus einer großen Anzahl zeitgenössischer Quellen und hinterfragt die Informationen kritisch, sodass tragfähige Bilder der jeweiligen Leben entstehen, die der Autor als Vorgeschichte für die spätere Entwicklung der Schreine versteht. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf eine Darstellung der Biografien, sondern schließt eine Analyse der sozialen Vernetzung der einzelnen Šaiḫs ein und zeigt, welche Schlüsse aus der Erforschung einzelner Biografien auf historische, soziale und gesellschaftliche Zustände der Zeit zulassen. Green wählt vier Šaiḫs, die aus unterschiedlichen sufischen Traditionen stammen und unterschiedliche Schwerpunkte in ihrem Leben und Wirken setzten. So gelingt es in den folgenden Abschnitten des Kapitels, die sich jeweils vertieft mit einem Aspekt sufischen Lebens beschäftigen (nämlich der literarischen Tradition Awrangābāder Sufis, der Einwirkung imperialer Geographien auf die Texte, dem Abbild einer regionalen Geographie des Heiligen in den Texten sowie der Rolle von Lesen und Schreiben in den Awrangābāder Sufi-Viten) zu zeigen, wie die unterschiedlichen Ansätze der Šaiḫs zum Teil ähnliche, zum Teil völlig unterschiedliche Ergebnisse in den einzelnen Themenfeldern erzeugen. Es gelingt dem Autor, die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen sufischen Traditionen, imperialen Veränderungen in der (Kultur)geographie, Bindung der Šaiḫs an bestimmte Klientengruppen, ihre Beziehungen zur Klasse der Herrschenden und schließlich der Ausrichtung der Texte und ihrer Autoren auf bestimmte hidden agendas und Leserschaften greifbar zu machen. Die folgenden Kapitel sind analog zum ersten Kapitel aufgebaut. Der Autor gibt zu Beginn jedes Kapitels einen kritisch aus zeitgenössischen Quellen aufgearbeiteten historischen Überblick über die allgemeine Entwicklung der Region und für sie relevanter Entwicklungen auf dem Subkontinent, insbesondere in Delhi. Dabei stehen die Wechselwirkung von politischen Veränderungen und religiösen Reaktionen darauf im Vordergrund. Besonders widmet der Autor sich der Rolle von schriftlichen Überlieferungen und sakralen Räumen in der Ausformung islamischer Heiligenbilder, wobei dies sowohl im weiteren Kontext einer Kulturgeographie des Subkontinents als auch im engeren Kontext des Umfeldes der jeweiligen Schreine betrachtet wird. Das zweite Kapitel, "The poetry and politics of sainthood in a Mughal successor state" ist insbesondere auf die Entwicklung der literarischen (sufischen) Tradition Awrangābāds sowie die Entstehung der Kulte in den einzelnen Schreinen konzentriert. Hier zeigt Green, welche gesellschaftlichen und religiösen Funktionen schriftliche Überlieferung (insbesondere die tadhkira) übernehmen kann, die sowohl der Wandlung des Bildes der Šaiḫs vom lebenden Sufi hin zum Heiligen erzeugten, als auch im Zusammenhang mit der Etablierung der Asaf Jāhī-Dynastie der Konsolidierung eines kulturellen Selbstverständnisses als Mogul-Nachfolgerstaat und darüber hinaus dem Prestige der Stadt Awragābād selbst dienten. Auf die einzelnen Schreine bezogen wird außerdem dargestellt, auf welch unterschiedliche Weise die ersten Nachfolger der Šaiḫs (sayyada našīn) den Kult und Schrein aufbauten. Dabei beleuchtet Green auch die unterschiedliche gesellschaftliche Funktion der einzelnen Schreine.
In der Aufarbeitung der wechselvollen Geschichte der vier Schreine und der mit ihr verbundenen literarischen Tradition gelingen dem Autor interessante Einblicke in die Zeiten überspannende Zusammenhänge. Hochinteressant ist zu sehen, wie sich der Zusammenhang von Etablierung einer neuen politischen Macht (zu Lebzeiten der Šaiḫs Etablierung der Mogulherrschaft, später Etablierung der Asaf Jāhī-Dynastie) und Neuorganisation der religiösen Landschaft sowohl in geographischer als auch in konzeptioneller Hinsicht wiederholen. Konstant über die Jahrhunderte bleibt der Einfluss von Zuwanderung sowohl sufischer Šaiḫs als auch neuer Klientel derselben aus dem Norden des Subkontinents und angrenzender Regionen. Sehr wertvoll auch über die Geschichte des Sufismus auf dem Subkontinent hinaus ist auch Greens Darstellung der wechselnden Funktionen und Intentionen von schriftlicher Überlieferung. Die Analyse der mit den Schreinen verbundenen literarischen Traditionen zeigt Funktionen, die von der Wandlung eines (lebenden) Šaiḫs hin zum idealisierten und stereotypisierten Bild eines (toten) Heiligen über die Versicherung einer kulturellen Identität, die sich teilweise aus einer glorifizierten Vergangenheit speist, bis hin zur Selbstrepräsentation der Nachfolger und Veränderung des Kultes reichen. Für dieses konzeptionell und methodisch ausgereifte Werk, das sich zudem durch einen leider häufig vernachlässigten sorgfältigen Umgang mit beeindruckend vielfältigem Quellenmaerial auszeichnet, kann nur eine unbedingte Leseempfehlung ausgesprochen werden. Egal ob der Leser einen historischen Überblick über die Entwicklung des Dekkan vom Ende der Mogulherrschaft bis in die Neuzeit, Informationen über literarische Entwicklungen oder eine tiefgehende Studie sufischer Traditionen der Region und Zeit sucht, oder ob er sich für vielversprechende methodische Konzeptionen interessiert, die durchaus auf andere Themenfelder übertragen werden können, er wird hier fündig werden. Die Studie bietet außerdem zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschung, so wäre z.B. eine Verbindung kunst- und architekturhistorischer Forschung mit den Ergebnissen dieser Untersuchung ein vielversprechendes Unterfangen, das das hier bereits detailliert gezeichnete Bild noch um weitere Facetten erweitern könnte.
Anna Kollatz