Dagmar Bechtloff: Don Luis und die Frauen Carvajal. Atlantische Welten in der Frühen Neuzeit. Ein Beitrag zur sefardisch-christlichen Gender- und Kulturgeschichte, Wiesbaden: Harrassowitz 2012, 212 S., ISBN 978-3-447-06781-2, EUR 48,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Daniel Jütte: Das Zeitalter des Geheimnisses. Juden, Christen und die Ökonomie des Geheimnisses (1400-1800), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011
Martin Mulsow / Jan Rohls (eds.): Socinianism and Arminianism. Antitrinitarians, Calvinists and Cultural Exchange in Seventeenth-Century Europe, Leiden / Boston: Brill 2005
Jeremy Cohen: A Historian in Exile. Solomon ibn Verga, Shevet Yehudah, and the Jewish-Christian Encounter, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2017
Die Geschichte Luis de Carvajals y de la Cueva, des Eroberers von Nuevo León (heute Mexiko und USA), und seiner Familie, von der zwischen 1596 und 1649 sechs Frauen und ein Mann wegen "Judaisierens" auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, ist eine der dramatischsten und zugleich bekanntesten Geschichten von Kryptojuden - Conversos, die im Geheimen weiter als Juden lebten - in den frühneuzeitlichen Amerikas.
Seit die Fälle erstmals detailliert von Vicente Riva Palacios ("El Libro Rojo" [1905]) zusammengetragen wurden und Alfonso Toro ("La familia Carvajal" [1944]), Boleslao Lewin ("Mártires y conquistadores judíos en la América Hispánica" [1954]) und Martin A. Cohen ("The Martyr" [1973; 2001]) ihnen lange Darstellungen gewidmet haben, sind sie nicht nur in alle wichtigen Studien zu iberischen Conversos eingegangen, sondern auch zum Stoff für Filme (Arturo Ripstein, "El Santo Oficio" [1974]), Theaterstücke (Jacobo Kaufmann, "Carvajal" [1994]) und Opern (Myron Fink, "The Conquistador" [1997]; Osias Wilenski, "Carvajal" [2007]) geworden. Erst kürzlich ist wieder ein Roman erschienen, der sich mit dem Schicksal Luis de Carvajals des Jüngeren und seiner Familie auseinandersetzt (Ana Lanyon, "Fire and Song" [2011]).
Dagmar Bechtloff legt jetzt die erste deutsche Monographie zur Carvajal-Familie vor. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern interessiert sie sich allerdings weniger für die Frage nach den religiösen Vorstellungen und dem Märtyrertod der Verurteilten als nach den unterschiedlichen Lebensentwürfen des Gouverneurs und seiner Verwandten (18). Im Kontext neuerer Forschungen zu "frontier societies" und transatlantischen Netzwerken nutzt sie die Inquisitionsprotokolle, um aus ihnen "individuelle Hoffnungen", "Lebensträume" und "Enttäuschungen" herauszulesen (14). Dabei zieht Bechtloff, die selbst lange in Mexiko gelebt hat, erstmals vor allem die Dokumente zu den Verhören der Frauen heran, die im Gegensatz zu denjenigen der Männer bisher unveröffentlicht und weniger beachtet geblieben sind (15).
Ihre Untersuchung gliedert Bechtloff in neun Kapitel, in denen sie die Lebenswege Luis de Carvajals y de la Cueva, seiner Frau Guiomar und seiner jüngeren Schwester Francisca mit Ehemann Francisco Rodríguez de Matos und den Kindern Gaspar, Isabel, Luis, Balthasar, Catalina, Mariana, Leonor, Miguel und Ana, ihrerseits mit Ehemännern und Kindern, nachzeichnet. Besonderes Augenmerk wirft Bechtloff auf Don Luis und seine Frau, die sich für eine Ehe in der Distanz entschieden und ihre Leben und Projekte in einer gewissen Unabhängigkeit verfolgten; auf Francisca, die den Bruder mit Mann und Kindern in die Amerikas begleitete, dort aber weitgehend auf sich gestellt war und über lange Perioden die Familie zusammen mit ihrer ältesten Tochter Isabel führte; auf Franciscas jüngere Tochter Mariana, die von einem Eintritt in einen religiösen Orden träumte, diesen jedoch im Gegensatz zu ihrem Bruder Gaspar nie verwirklichen konnte; auf die Brüder Balthasar und Miguel, die den Inquisitoren - im Gegensatz zu den Frauen -, als sie gesucht wurden, durch Flucht entkamen; schließlich auf die unterschiedlichen Reaktionen der Mutter, Töchter und Söhne in den Kerkern der Inquisition und den Verhören durch die Inquisitoren.
Die Profile und Schicksale, die Bechtloff nachzeichnet, sind ohne Frage bewegend und erzählenswert. Leider beschränkt sich die Autorin jedoch vielfach auf die Schilderung der Lebenswege. Anstatt Aussagen und Ereignisse zu interpretieren, lässt sie sie durch sich selbst sprechen. Fragen wie diejenige, "inwiefern sich die Frauen Carvajal unter den Grenzbedingungen ihres ersten neuspanischen Wohnortes im menschleeren Pánuco oder in den Silberminenorten Taxco und Tenango Lebenssichten und Verhaltensweisen aneigneten, die zu massiven Schwierigkeiten und Spannungen führen mussten, als sie ins koloniale urbane Zentrum von Mexiko-Stadt zurückkehrten" (31), werden aufgeworfen, dann aber kaum diskutiert. Ähnlich verhält es sich mit den Besonderheiten der Lebensentwürfe und Leben von Conversas in transatlantischen Netzwerken oder Bechtloffs großem Thema, dem 'prototypischen Lebensentwurf des Menschen der Moderne' (19) und den Möglichkeiten und Grenzen seiner Verwirklichung "innerhalb vorgegebener materieller, sozialer und kultureller Existenzbedingungen und ihrer verinnerlichten Form als Ordnungs- und Bewertungsmuster einer zeitgebundenen Epoche" (20). Schließlich wirft Bechtloffs Ausklammerung religiöser Fragen aus ihrer Diskussion der Carvajals ebenfalls Zweifel auf. Nicht zuletzt hat Miriam Bodian ("Dying in the Law of Moses" [2007]) am Beispiel Luis de Carvajals des Jüngeren gerade wieder eindrücklich gezeigt, wie wichtig und interessant die hybriden Zwischenwelten waren, in denen sich natürlich nicht nur der Neffe des Gouverneurs, sondern auch die Frauen der Carvajal-Familie bewegten.
Am Ende bleibt die Lektüre von "Don Luis und die Frauen Carvajal" enttäuschend, weil das Buch viel verspricht und nur wenigen seiner Anforderungen genügt. Hinzu kommt, dass auffällige Fehler die Lektüre bisweilen beträchtlich stören. Hier hätte ein gründliches Lektorat durch den Verlag gut getan. Zwei Dinge allerdings muss man Dagmar Bechtloff anrechnen: Erstens hat sie mit ihrem Buch die Geschichte der Carvajal-Familie erstmals nach Deutschland gebracht, wo sie - wie überhaupt alle Geschichten von Kryptojuden in den kolonialen Amerikas - bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Und zweitens hat sie zu Recht darauf hingewiesen, dass den Frauen der Familie Carvajal eine zentrale und durch die besondere Situation der "frontier society" noch gesteigerte Bedeutung zukam, die ebenfalls - und in diesem Falle auch über Deutschland hinaus - von einer Forschung, die sich immer wieder dem Onkel und dem Neffen gewidmet hat, grob vernachlässigt wurde. Hier liegt Bechtloff ganz im Trend neuerer Arbeiten von Renée Levine Melammed, Christina Galasso und anderen, die sich mit den Conversas gezielt den Frauen innerhalb des iberischen Kryptojudentums zugewandt haben, und es ist nicht zuletzt deshalb zu hoffen, dass ihre Darstellung trotz aller Kritik Beachtung findet.
Sina Rauschenbach