Leo Freundlich: Die Albanische Korrespondenz. Agenturmeldungen aus Krisenzeiten (Juni 1913 bis August 1914) (= Südosteuropäische Arbeiten; 144), München: Oldenbourg 2012, LXVII + 614 S., ISBN 978-3-486-70716-8, EUR 84,80
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Am 28. November 1912, wenige Wochen nach dem Beginn des Ersten Balkankriegs, erklärte Albanien seine Unabhängigkeit. Der neugegründete Staat wurde erst im Mai 1913 von den europäischen Großmächten anerkannt, seine genauen Grenzen blieben noch längere Zeit umstritten und die sechsmonatige Herrschaft des Deutschen Wilhelm zu Wied (der ohne ersichtlichen Grund den Umschlag des hier anzuzeigenden Bandes ziert) als Fürst von Albanien geriet zum Fiasko.
In den schwierigen Monaten zwischen Nationalstaatsgründung, Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Besetzung Albaniens durch österreichische, französische und italienische Truppen ab dem Januar 1916, musste dem jungen Staat daran gelegen sein, enge Beziehungen zu seinen Nachbarn zu knüpfen. Die österreichisch-ungarische Monarchie nahm dabei eine Schlüsselstellung ein.
Aus diesem Kontext resultiert die Bedeutung der von Leo Freundlich in Wien herausgegebenen Albanischen Korrespondenz, die ab dem Frühjahr 1913 erschien und bereits im August 1914 wieder eingestellt wurde. Ein kurzer Wiederbelebungsversuche während des Kriegs blieb erfolglos. Robert Elsie, der durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen zur albanischen Kultur und Literatur hervorgetreten ist, hat die gesamten überlieferten Meldungen dieser Korrespondenz für den Zeitraum von Juni 1913 bis August 1914 nun für die Forschung verfügbar gemacht. Die überlieferten Ausgaben befinden sich, von einigen Ausnahmen im Hauptstaatsarchiv Stuttgart abgesehen, alle in der Universitätsbibliothek in Wien.
Der 1875 in Biala, im Süden des heutigen Polens geborene Leo Freundlich hatte bereits ein ebenso ereignisreiches wie wechselhaftes Leben hinter sich, als er Anfang 1913 die Albanische Korrespondenz gründete. Schon in jungen Jahren hatte er in seiner Heimat die sozialistische Zeitung Volkswacht herausgegeben und sich dafür allerlei Ärger und sogar eine kurze Gefängnishaft eingehandelt. Ab 1907 war er für vier Jahre Mitglied des Reichsrats. In diese Zeit fiel auch seine kurze Ehe mit der Schriftstellerin und Politikerin Emmy Freundlich, die nach dem Krieg als Präsidentin der International Co-operative Women's Guild, einziges weibliches Mitglied im Komitee der Wirtschaftssektion des Völkerbundes und als Mitbegründerin des Austrian Committee for Relief and Reconstruction eine bemerkenswerte Karriere machte, bevor sie in die USA emigrierte und sich in diversen UN-Gremien engagierte.
1911, das Jahr seiner Scheidung von Emmy und dem Ende seiner Abgeordnetentätigkeit, wurde für Leo Freundlich zum markanten Einschnitt im Lebensweg. Er zog nach Wien, ließ von seiner früheren sozialistischen Orientierung nichts mehr erkennen und versuchte sich fortan wieder als Journalist. Während Emmy im Umkreis des Sozialdemokraten und späteren Staatskanzlers Karl Renner Anbindung fand, knüpfte Leo Kontakte unter den Wiener Exilalbanern. Roswitha Strommer vermutet in ihrer "biographischen Annäherung", die als Einleitung der Quellenedition fungieren soll, dass die katholische Reichspost und die österreichische Militärkanzlei für Freundlichs publizistische Tätigkeit eine entscheidende Rolle spielten.
Leider erfährt der Leser in Strommers Text so gut wie nichts über die Albanische Korrespondenz. Als "Abonnement-Publikation", so deren Selbstbezeichnung im Impressum, schien sie sich "nur an einen ganz kleinen Empfängerkreis gewendet zu haben, verstand sich also als Magazin oder Nachrichtenagentur für Eingeweihte" (LII). Robert Elsie spricht im Vorwort von "geeignete[n] Adressaten, in erster Linie österreichisch-ungarische Regierungsstellen" (VII). Diese wenigen Angaben lassen bereits erkennen, dass es sich keineswegs um eine Nachrichtenagentur gehandelt hat. Die Albanische Korrespondenz verkaufte ihre Nachrichten nicht an Zeitungen, sondern an Privatkunden aus Regierungskreisen und reiht sich damit in die sehr hohe Zahl von spezialisierten Korrespondenzen ein, die in ganz Europa für die unterschiedlichsten Themenbereiche hergestellt wurden.
Gerade deswegen wäre es für den wissenschaftlichen Wert der vorliegenden Edition unerlässlich gewesen, nicht nur mehr von den Lesern und Käufern dieser Korrespondenz, sondern insbesondere von ihren Herstellungs- und Produktionsmethoden zu erfahren. Stattdessen erwähnt Strommer lediglich, dass einige albanische Studenten beim Übersetzen behilflich waren. Nicht nachvollziehbar ist hingegen, woher die Meldungen stammten, welche Korrespondenten sie verfassten und überlieferten, wie sie in der Wiener Redaktion ausgewählt und bearbeitet wurden, wer diese Meldungen schließlich las und welche Auswirkungen diese eventuell zeigten.
Dass die Albanische Korrespondenz die "Fakten für sich sprechen" ließ (LII), widerlegt Strommer auf den folgenden Seiten bereits selbst und führt aus, wie Freundlich "Albanien und seinen neuen Herrscher mit verklärtem Blick [sah], und seine albanische Korrespondenz bot in all ihren folgenden Nummern nur Positives zum neuen Herrscher Albaniens" (LIV). Eine kritische Auseinandersetzung mit der Auswahl und Überlieferung wäre umso dringlicher gewesen, als Freundlich zuvor bereits ein Buch mit dem Titel "Albaniens Golgatha" veröffentlicht hatte, das vor dem Hintergrund der Balkankriege der 1990er Jahre wiederentdeckt und von Elsie ins Deutsche übersetzt wurde. Hier hatte Freundlich Presseberichte aus den Jahren 1912-13 zusammengestellt, die "von serbischen Streitkräften verübte Gräueltaten im besetzen Kosovo und Nordalbanien" berichteten (VII). Die abschließende Bemerkung Strommers, Freundlich habe "sicherlich [...] als Herausgeber sein Material gesichtet und im Sinn einer proalbanischen Darstellung präsentiert" (LXVII) unterstreicht die Notwendigkeit einer sorgfältigen, kommentierten und kritischen Edition der Albanischen Korrespondenz.
Diese war anscheinend vorgesehen, wurde jedoch nicht geleistet. Stattdessen werden auf 557 zweispaltig eingerichteten Seiten die Meldungen in ihrer chronologischen Abfolge ohne jede Anmerkung wiedergegeben. Teilweise scheint es sich um Privattelegramme aus europäischen Hauptstädten gehandelt zu haben (von dort ansässigen Exilalbanern?), teilweise um Meldungen aus europäischen Zeitungen wie Le Temps, dem Berliner Lokalanzeiger oder der Kölnischen Zeitung (vgl. 249-251). Woher die Meldungen aus Albanien stammten, bleibt unklar. Im Text scheint es teilweise, als ob viele Nachrichten der Albanischen Korrespondenz sogar aus anderen Quellen zitiert würden. Viele Meldungen beginnen mit "Die Albanische Korrespondenz meldet aus [...]", andere wie z.B. vom November 1913 mit "Der Bischof von Alessio Monsignore Luigi Bumci äußerte sich in einer von der Albanischen Korrespondenz veröffentlichten Unterredung [...]" (223).
Ohne den schmerzlich vermissten Anmerkungsapparat bleibt nicht nur der wissenschaftliche Erkenntniswert dieser Meldungen fragwürdig. Auch auf der inhaltlichen Ebene sind die Texte wenn überhaupt nur für Spezialisten zugänglich, wie ein beliebig ausgewähltes Beispiel vom 1. Januar 1914 verdeutlicht: "Die Albanische Korrespondenz meldet aus Valona: Eine größere Anzahl von Malissorenhäuptlingen ist unter der Führung des Bajraktars von Shkreli, Vat Maraschi, in Valona eingetroffen. Unter ihnen befinden sich Bajraktare der Stämme von Alession, Hoti, Gruda, Shkreli, Kastrati und meherer Häupter der Mirdita." (274)
Zwar sind die Meldungen durch eine einleitende Auflistung und durch ein abschließendes Register gut zugänglich, die ebenfalls angehängte Bibliografie sowie die Liste der konsultierten Archive verwundern hingegen, da sie im Text selbst keine Rolle spielen. Für alle, die wie der Rezensent den Band wegen der im Untertitel angekündigten "Agenturmeldungen" konsultieren, ist er ohne jeden Wert. Für alle, die ihn aus Interesse an der Geschichte Albaniens oder der Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs zur Hand nehmen, ist er nur unter großem Vorbehalt benutzbar. Kurzum: eine Quellenedition, die wissenschaftlichen Maßstäben in keiner Weise gerecht wird.
Volker Barth