Helmut Walser Smith (ed.): The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford: Oxford University Press 2011, XVII + 863 S., ISBN 978-0-19-923739-5, GBP 95,00
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Ausnahmsweise sei hier mit einer persönlichen Bemerkung begonnen. Die Rezensentin, einstmals DAAD-Lektorin in Großbritannien, erinnert sich für eine auf Englisch zu haltende Vorlesung peinigender Übersetzungsschwierigkeiten für deutsche Wortungetüme wie "Reichsdeputationshauptschluß" . Schwierig war es zudem (auch schon vor gut zwei Jahrzehnten), die Studierenden zur Lektüre anzuhalten, wobei als Begleitmaterial zur Vorlesung die ausgezeichneten und immer noch höchst lesenswerten Bücher von Gordon Craig [1] oder Mary Fulbrook [2] dienten, um den Studierenden einen Weg durch das Dickicht der deutschen Geschichte zu bahnen. Wer jemals im englischsprachigen Ausland unterrichtet hat, weiß, was es heißt, die für Außenstehende fast unüberschaubare Geschichte der deutschen Länder zu strukturieren und sinnvoll zu erklären, von der Heranführung Studierender an die Wissenschaft ganz zu schweigen.
Anders als einbändige Überblicksdarstellungen einzelner Autoren oder mehrbändige Handbücher verbindet das hier vorzustellende Buch den konzisen Ansatz eines Handbuchs mit der Vielfalt von Perspektiven und Anregungen eines Aufsatzsammelbandes, der die neueste Forschung bündelt. Historikerinnen und Historiker aus Deutschland, Großbritannien und den USA - nicht selten die führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf ihrem Gebiet - stellen in pointierten Aufsätzen verschiedene Facetten - Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Literatur, Mentalitäten, Religion - der modernen deutschen Geschichte dar, kurze Bibliografien, Kartenmaterial und dankenswerterweise auch ein Sachregister ergänzen die Essays. Schon die Danksagung des Herausgebers ist der Idee verpflichtet, dass das Handbuch einen Zugang zur deutschen Geschichte und ihren verschiedenen Forschungsfeldern öffnen und diese nicht für "abschließend ausgeforscht" erklären soll.
Das Handbuch ist in fünf Kapitel gegliedert. Nach einer generellen Einführung (zum Alten Reich, den geografischen Konzepten von Deutschland sowie einer Geschlechtergeschichte) folgen vier Abschnitte, die die deutschen Geschichte (von etwa 1760 bis 1860, von 1860 bis 1945, von 1945 bis 1989, von 1989 bis in die Gegenwart) betrachten. Durch das Abweichen von kanonischen Unterteilungen wie etwa der Reichsgründung von 1871, der Niederlage von 1918 oder der "Machtergreifung" von 1933 ergeben sich neue Konstellationen und Überlegungen, teils aber auch Wiederholungen und Überlappungen, manchmal auch Widersprüche. Kontinuitäten werden betont, der deutsche "Sonderweg" in Frage gestellt, das 'Dritte Reich', der "Betriebsunfall" der deutschen Geschichte, in das "Davor" und "Danach" eingebettet, viele Entwicklungen nicht isoliert, sondern in einem größeren Kontext betrachtet.
Den Entschluss, den Beginn der neueren deutschen Geschichte um 1760 - mitten im Siebenjährigen Krieg - zu verorten, kann man aus der Sicht der politischen Geschichte natürlich kritisieren, aus sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher oder kulturalistischer Perspektive gibt es jedoch gute Gründe, die Zäsur dort zu setzen: erst etwa ein Jahrhundert nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges war die Bevölkerungszahl wieder auf dem Stand wie um 1600, und erst um 1760 begann das demografische Wachstum, das zur Verdoppelung der deutschen Bevölkerung innerhalb der nächsten einhundert Jahre führen würde, die landwirtschaftliche Revolution (mit der verbesserten Dreifelderwirtschaft, Intensivierung und Mechanisierung in Ackerbau und Viehzucht) schuf Voraussetzungen für die Versorgung dieser wachsenden Nation und die Urbanisierung setzte ein: waren es 1750 nur 39 Städte gewesen, die mehr als 10.000 Einwohner hatten, waren es um 1800 bereits 62. Besonders spannend ist der transnationale Ansatz bei der Rezeption der Amerikanischen und Französischen Revolution in Deutschland.
Problematischer erscheint die auf das Jahr 1860 datierte Zäsur, als - so der Herausgeber - mit den Einigungskriegen die Geschichte von deutscher Nation und Staat zusammengeführt wurde und das 75 Jahre dauernde Experiment des deutschen Nationalstaates begann (7). So existierten bis zur Jahrhundertmitte in vielen Teilen der Welt lose Staatenbünde - man denke nur an das entstehende Italien, Österreich-Ungarn, die USA oder Japan -, bis die Idee des Nationalstaats immer weiter Raum griff. Die Vorstellung der "zu spät gekommenen Nation" relativiert sich, wenn man sich vor Augen führt, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Nationalstaat in Europa keineswegs die Norm war, waren doch Österreich-Ungarn, das russische oder das osmanische Reich Vielvölkerstaaten, die über ein Dutzend verschiedene Ethnien regierten. Gleichwohl: das dritte Kapitel für die Jahre von 1860 bis 1945 soll so verschiedenen Staats- und Regierungsformen wie dem Deutschen Bund, dem Norddeutschen Bund, der konstitutionellen Monarchie des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und dem 'Dritten Reich' gerecht werden - ein schwieriges und nicht immer geglücktes Unterfangen.
In vielerlei Hinsicht ist die Konzeption des Bandes der angelsächsischen Ablehnung der "Sonderwegs"-Theorie verpflichtet, die David Blackbourn und Geoff Eley erstmals anhand des Beispiels des deutschen Bürgertums durchexerzierten. [3] Die sicherlich wichtige Betonung der Parallelen zu anderen Ländern - beispielsweise hinsichtlich Kulturkampf oder Konflikte um regionale Autonomie in anderen westeuropäischen Ländern oder den USA nach dem Sezessionskrieg - wirft aber schließlich mehr Fragen auf, als der Ansatz beantworten kann. Warum dann Hitler, das 'Dritte Reich', der Holocaust, wenn die Konstellationen in anderen Ländern so ähnlich oder quasi identisch waren?
Die Betonung der Kontinuitäten ist sinnvoll für soziale und wirtschaftliche Entwicklungen oder, um mit Fernand Braudel zu sprechen, "Konjunkturen", schafft aber Probleme bei der histoire événementielle wie politischen Ereignissen oder auch "Wendepunkten" der Geschichte. Durch die teils doch willkürlichen Zäsuren entstehen widersinnige und widersprüchliche Eindrücke. Thomas Mergel beschreibt die Entmachtung der SA im "Röhm-Putsch", um danach zu behaupten, dass die SA keinen Anteil mehr am NS-Terror hatte ("From then on, the SA was no longer an instrument of Nazi terror." 441), während William W. Hagen zurecht auf das Novemberpogrom (unter Beteiligung der SA) verweist (553). Die thematische Zusammenführung des Massensterbens im Ersten Weltkrieg mit den Massenmorden im Zweiten Weltkrieg und Thomas Kühnes verquere Vorstellung der Schaffung einer Nation durch Völkermord ("the national brotherhood of mass murder", 544) scheint der Rezensentin fragwürdig.
Für das vierte Kapitel sind die Zäsuren klarer: 1945 wie 1989 waren - auch jenseits der deutschen Geschichte - global bedeutende Jahre, die deutsche Teilung bietet schon in sich das Potenzial des grenzüberschreitenden Vergleichs. Das fünfte Kapitel ist die vielleicht beste Begründung für den Ansatz des Buches, zeigt es doch den Bedeutungsverlust Deutschlands ebenso wie den Europas insgesamt: Berlin, einst eine der bevölkerungsreichsten Städte der Welt, gehört nun nicht einmal mehr zu den größten 50, von der führenden Industrienation hat sich die deutsche Wirtschaft längst auf den tertiären Sektor verlagert, die wilhelminische Großspurigkeit ist einer Politik verlässlicher Partnerschaften und Allianzen gewichen, die ethnische Homogenität spielt in einem multikulturellen Land kaum mehr eine Rolle . "Das deutsche Jahrhundert" (Eberhard Jäckel) gehört endgültig der Vergangenheit an.
Wie schreibt man nationale Geschichte in einem globalisierten Zeitalter? Die durchaus paradoxe Forderung wird in dem Band auf eindrucksvolle Weise eingelöst: durch die Vielfalt von Autorinnen und Autoren, die den Blick von außen wie den Blick von innen wagen, durch eine Einbettung in internationale und transnationale Fragestellungen, durch die Aufhebung üblicher Zäsuren und durch innovative Ansätze. Für die Vermittlung deutscher Geschichte an Nichtdeutsche ist das Buch außerordentlich gut geeignet, weil durch den transnationalen Referenzrahmen der Rekurs auf die eigene nationale Geschichte erleichtert wird. Luzide, teils provokante, stets forschungsorientierte Artikel mit konzisen Zusammenfassungen ermöglichen einen raschen Zugang zu einer stetig komplexer werdenden Forschungsliteratur. Allerdings wird man nicht umhin können, zu Unterrichtszwecken auch eine der traditionellen chronologisch orientierten Darstellungen heranzuziehen. Preis und Umfang des Werks legen nahe, dass es eher in Bibliotheken konsultiert werden wird.
Durch diesen Band gelang es der Rezensentin endlich, eine befriedigende Übersetzung für den Reichsdeputationshauptschluß zu finden. Sie konnte mit Entzücken feststellen, dass die Formulierung noch komplizierter als im Deutschen ist: entweder "Principal Conclusion of the Extraordinary Imperial Delegation" (102) oder "Main Recess of the Imperial Diet" (151).
Anmerkungen:
[1] Gordon Craig: The Germans, New York 1982.
[2] Mary Fulbrook: A Concise History of Germany, Cambridge 1991.
[3] David Blackbourn / Geoff Eley: The Peculiarities of German History: Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford 1984.
Edith Raim