Rezension über:

Heike Reimann / Fred Ruchhöft / Cornelia Willich (Hgg.): Rügen im Mittelalter. Eine interdisziplinäre Studie zur mittelalterlichen Besiedlung auf Rügen (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa; 36), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, 355 S., ISBN 978-3-515-09441-2, EUR 51,00
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Rezension von:
Anne Klammt
Georg-August-Universität Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Anne Klammt: Rezension von: Heike Reimann / Fred Ruchhöft / Cornelia Willich (Hgg.): Rügen im Mittelalter. Eine interdisziplinäre Studie zur mittelalterlichen Besiedlung auf Rügen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/09/23791.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Heike Reimann / Fred Ruchhöft / Cornelia Willich (Hgg.): Rügen im Mittelalter

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Mit diesem Buch hat das Leipziger Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) ein interessantes Experiment zur Interdisziplinarität erfolgreich zum Abschluss gebracht. Heike Reimann, Fred Ruchhöft und Cornelia Willich haben nämlich die Ergebnisse ihrer gemeinsamen Untersuchung zur mittelalterlichen Entwicklung Rügens anhand von Schriftquellen, Ortsnamen und archäologischen Funden in einem kollektiv verfassten Text vorgelegt. Somit bietet diese späte Publikation aus dem bis 2007 geförderten Gesamtprojekt "Germania Slavica" schon rein vom formalen Standpunkt aus Neues.

Das Thema des Buches ist vielversprechend, denn Rügen gilt von siedlungskundlicher Seite als ein Sonderfall in Nordostdeutschland. Noch heute prägen zahlreiche bemerkenswert kleine, gestreut liegende Siedlungen bei einer insgesamt geringen Einwohnerzahl das Bild der Inselgruppe (Rügen besteht aus mehreren Inseln und Halbinseln, wie dem Mönchsgut und Hiddensee). Es fehlen, wie die Verfasser zeigen, typische, auf die Ostsiedlungszeit zurückgehende Dorfformen. Anders verhält es sich mit dem anschließenden Festland, obgleich dieses im Hoch- und Spätmittelalter mit den Inseln eine politische Einheit, das Fürstentum Rügen, bildete (101-104). Die Transformation der Ostsiedlungszeit hat somit offenbar auf Rügen einen ganz ungewohnten Verlauf genommen. Darauf deutet auch der unter 20 Prozent liegende Anteil deutscher Ortsnamen im Mittelalter hin (126-135). Die Autoren führen in ihrer Untersuchung die Entstehung dieser für die Inselgruppe so typischen Siedlungsstruktur nun auf die slawische Besiedlung zurück. Deren Beginn setzen sie spät, im 9. Jahrhundert, an (42-48).

Das in drei große Abschnitte - Kapitel 1, 2 und 3-5 - gegliederte Buch beginnt mit einer griffigen Übersicht zu Quellen und Forschungsstand. Die dort ebenfalls befindliche Beschreibung der naturräumlichen Gegebenheiten muss allerdings ohne hinreichendes Kartenmaterial (Bodenkarte und Relief zu Lande und Wasser) auskommen.

Der zweite Abschnitt befasst sich mit der administrativen Gliederung Rügens im 13. und 14. Jahrhundert. Von zentraler Bedeutung sind hierbei einerseits die Entstehung des Pfarrkirchensystems und Klostergründungen, zum anderen aber die Entwicklung des Fürstentums Rügen. Die Verfasser kommen insgesamt zum Ergebnis, dass sich die räumliche Verteilung der Pfarren wie die der Vogteien an slawischen Siedlungskammern orientierte. Anders als im übrigen Pommern, in Mecklenburg und in Brandenburg sind jedoch keine slawenzeitlichen Zentralorte fortgeführt worden. Zu den Zentralorten zählen die Verfasser auf Rügen maritime Handelsplätze und Burgen unterschiedlicher Funktion (Tempelburgen und Herrschaftssitze).

Die maritimen Plätze befanden sich an den flachen Boddengewässern zwischen den Inseln (40 ff.; 211-216). Nach dem Aufkommen neuer Schiffstypen konnten sie nur noch von kleinen Fahrzeugen angesteuert werden. Profitiert hat von dieser Entwicklung das im 13. Jahrhundert an tieferem Wasser gegründete Stralsund. Die Burg Arkona verlor mit der gewalttätigen Missionierung im 12. Jahrhundert ihre Bedeutung. Die übrigen, der slawischen Elite zugesprochenen Burgen, werden von den Verfassern meist erst sehr spät, in das 11. und 12. Jahrhundert, datiert. Diese Befestigungen seien aufgrund der geringmächtigen archäologischen Fundschichten weniger als Herrschaftssitze denn als Fluchtburgen anzusehen. Das archäologische Fundbild stützt demnach die im Text gleich mehrfach zitierte (65, 70, 90, 98) Aussage Helmolds über die politische Vormacht der religiösen Führer bei den Rügenslawen. Zirkulär wird dieser Quellenhinweis jedoch auch als Basis zur genannten Interpretation des archäologischen Fundbildes verwendet. Nicht erörtert wird von den Verfassern Helmolds mögliche Befangenheit bei der Schilderung dieses von ihm als Krieg gegen gottlose Heiden empfundenen Feldzugs.

Es sind somit auch Brüche gegenüber der slawenzeitlichen Besiedlungsstruktur zu erkennen. Nach Ansicht der Verfasser knüpft das mittels archäologischer und schriftlicher Quellen bis in das 13. Jahrhundert zurückverfolgbare Vorherrschen kleiner Gehöftgruppen aber dennoch an das jungslawische (11.-12. Jahrhundert) Siedlungsbild an. Diese Siedlungsform spiegelt sich den Verfassern nach in der insgesamt sehr hohen Dichte archäologischer Siedlungsnachweise aus der Slawenzeit wider. Allerdings räumen sie ein, dass die Siedlungen kaum alle gleichzeitig bestanden haben können. Wie sich zudem die sehr lange Verwendung slawischer Keramik bis in das 13. Jahrhundert auf das Fundbild ausgewirkt hat, erörtern sie nicht. Wiederholt greifen die Verfasser in diesem Abschnitt argumentativ auf die Ergebnisse ihrer erst anschließend in den Kapiteln 3-5 vorgestellten Detailstudien vor. Gliederungsprobleme sind auch an der gleich dreimal geschilderten Beschreibung der Erstürmung Arkonas (58, 67, 152) und der wohl unbeabsichtigt doppelt gezeigten Ortsnamenkartierung (Abbildungen 11, 51, und Abbildungen 31, 128) ablesbar.

Der dritte Abschnitt widmet sich dem Nachweis der genannten Hypothesen in drei Detailregionen im Nordwesten, Osten und Südosten Rügens. Neben einer Analyse im Lichte aller drei Disziplinen findet sich dort jeweils ein solider Katalog der mittelalterlichen Siedlungen (Ortsnamengenese, urkundliche Belege, summarisch archäologische Fundstellen).

Besondere Aufmerksamkeit kommt hier dem Kapitel über Schaprode zu, da es eine enge argumentative Verzahnung eigener Begehungen und schriftlicher Belege bietet (Kapitel 4). Die Umstrukturierung der ursprünglich auf die Bodden ausgerichteten slawischen Besiedlung kann in Schaprode mit einer neuentdeckten 4 ha großen Siedlung des 10. bis 13. Jahrhundert belegt werden. Ihr keramisches Fundmaterial beweist weiträumige Kontakte, wenn auch (noch) einschlägige Funde (Wägstücke, Hacksilber, Münzen) fehlen. Weitere Begehungen galten kleinen Wüstungen. Einige von ihnen erbrachten neben Keramik des 13./14. Jahrhunderts jung- und sogar mittelslawische (Typ Fresendorf; mittleres 9. bis Anfang 11. Jahrhundert) Ware. Daher wird die Existenz einzelner dieser spätmittelalterlichen Kleinsiedlungen von den Verfassern bis mindestens in das 11. Jahrhundert zurückdatiert und aus dieser Platzkonstanz eine frühe besitzrechtliche Bindung der Hofstellen abgeleitet. Die heftig diskutierte Frage nach der Existenz von Grundeigentum und Gehöften bei den westslawischen Gemeinschaften wird erstaunlicherweise jedoch lediglich in zwei Fußnoten angesprochen (126, Anmerkung 378, und 220, Anmerkung 43). Eine so provokante These hätte eine umfassendere Erörterung verdient. Leider ist auch die Vorlage der archäologischen Begehungen unzureichend: Es fehlen Angaben zur Lage und Größe der Begehungsflächen, das Fundmaterial wird nicht einmal summarisch (Anzahl der Fragmentarten und Warenanteile) dargestellt, und im gesamten Band gibt es keine Abbildung der Keramiktypen.

In sprachlicher Hinsicht überzeugt das Buch nicht immer, und es gibt einige Flüchtigkeitsfehler im Layout und bei der Beschriftung der Abbildungen. Wichtiger aber sind die zahlreichen interessanten Überlegungen und fundierten Thesen, welche die drei Forscher/-innen hier vorgelegt haben. Ihre Ergebnisse rufen zu weiterführenden Forschungen unter Einbeziehung der Naturwissenschaften (unter anderem der Limnologie) auf.

Anne Klammt