Holger Köhn: Die Lage der Lager. Displaced Persons-Lager in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands, Essen: Klartext 2012, 464 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8375-0199-5, EUR 34,95
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Die Präsenz von Displaced Persons (DPs) war ein weithin sichtbares Phänomen in den Westzonen des Nachkriegsdeutschlands. Wer als DP galt, wurde im November 1944 vom Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces (SHAEF) per "Outline Plan for Refugees and Displaced Persons" festgelegt. Unter die Fürsorge der Alliierten fielen die vom nationalsozialistischen Deutschland verschleppten und inhaftierten Personen, die in befreitem und besetztem Gebiet vorgefunden wurden. Allein in Deutschland gab es rund sieben Millionen DPs. [1] Hilfeleistungen kamen für all jene DPs ausschließlich von den Westalliierten. In den sowjetisch besetzten Zonen in Deutschland und Österreich entstanden keine DP-Camps und der Terminus DP wurde von der Sowjetunion nicht anerkannt, gab es in der sowjetischen Ideologie und Strategie doch lediglich Repatrianten. [2] Durch die zunächst von den Alliierten gemeinsam als oberste Prämisse auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 festgelegte Repatriierung von DPs gelangten bis Ende 1945 etwa 5,5, Millionen Menschen zurück in ihre Herkunftsländer; bis Ende 1947 betraf dies ca. 7 Millionen DPs.
Inmitten der Repatriierungsbestrebungen kam es zur Flucht von mehr als 100.000 Juden aus Osteuropa Richtung amerikanische Besatzungszone. Ausgelöst worden war diese "Gegenbewegung" durch Morde an jüdischen Rückkehrern und Überlebenden, kulminierend im Pogrom im polnischen Kielce am 4.Juli 1946. Diese Juden waren, ebenso wie die überwiegende Anzahl der anderen jüdischen DPs, nicht repatriierbar. Andere DPs, die sich in größerer Zahl der Repatriierung widersetzten, waren - aus antikommunistischer Haltung heraus - Polen, Ukrainer und Weißrussen oder jene Balten, die bereits 1944/45 nach Deutschland gelangt waren. Die teils bis in die 1950er bestehenden DP-Camps waren sichtbar, sind jedoch Teil der deutschen Umgebung, und die letzten wurden erst in den 1950ern aufgelöst. Wo aber sind diese Räume lokalisierbar, wie ist der Stand der Forschung?
Historiografische Aufmerksamkeit wird DPs insbesondere in Deutschland erst seit rund 15 Jahren zuteil. In den 1980ern kamen erste Untersuchungen von Historikern wie Yehuda Bauer und Wolfgang Jacobmeyer heraus, und in den 1990ern paradigmatische Studien zu jüdischen DPs von Jaqueline Giere, Juliane Wetzel und Angelika Königseder. Das Thema wurde vertieft von Wissenschaftlern wie Boaz Cohen, Atina Grossmann, Laura Jockusch oder Avinoam J. Patt. Darüber hinaus entstanden Arbeiten zu verschiedenen Gruppen nichtjüdischer DPs, z.B. zu Balten und Polen. [3]
Holger Köhn aber hat mit seiner als Dissertationsschrift verfassten Studie Die Lage der Lager. Displaced Persons-Lager in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands als erster die Orte, an denen sich DPs im Übergang vom Überleben zur Repatriierung oder zur Emigration einrichteten, entlang der Raumtheorie untersucht. Für das Verständnis der Studie Köhns ist die Einführung des Autors in Konzepte der Raum-Theorie unerlässlich. (29-85) Die Synthese aus historischen, soziologischen und philosophischen Konzeptionen zum Thema "Lager" erscheint zudem von Seite zu Seite schlüssiger. Der Raum, der DPs durch die Alliierten zugewiesen worden war, bedeutete für die deutsche Umgebung doppelt besetztes Territorium und erinnerte zudem durch die Präsenz der DPs an die Verbrechen der eigenen Nation. DP-Unterkünfte, die in bestehenden Wohnsiedlungen eingerichtet wurden, wurden von Alliierten requiriert und Überlebenden zugewiesen. Empathische Verantwortungsgefühle gegenüber den Überlebenden hatten hier wenig oder eher keinen Raum.
Köhn fügte zwecks besseren Verständnisses der Orte, an denen DP-Camps errichtet wurden, ein Kapitel ein, in dem die Entscheidungen der Amerikaner entlang alliierter DP-Politik erläutert werden. (87-127) Im Anschluss werden die verschiedenen DP-Camp-Typen analysiert. Köhn teilt hierbei die DP-Camps in zwei Oberformen ein: jene, die in "nicht-privatem Raum" und solche, die in "privatem Raum" existierten. Camps in privatem Raum konnten zum einen peripher und geschlossen sein, wie Föhrenwald in Wolfratshausen. Oder sie umfassten Wohnraum, der dezentral und nicht geschlossen war, wie Zeilsheim. Eingebettet in die historische und soziologische Betrachtung der Orte, entfaltet Köhn ein lebendiges Bild der Situationen und Räume, in denen sich die DPs wiederfanden und in denen sich Deutsche als Zaungäste wiederfanden. An dieser Stelle kommt der Begriff der "Identitätsräume" in Spiel, wobei es für Köhn nicht primär um die Identitätsbildung der DPs geht, sondern vielmehr um das Verhältnis zwischen Allliierten, DPs und Deutschen. Köhn hätte hier den Begriff des "Identitätsraumes" durchaus auf die Lebenswelten der DPs erweitern können. Für DPs waren die Camps Orte, an denen sie die von Verfolgung und Trauma beschädigte Identität als Individuum und als nationale Gruppe diskutieren und ihre Zukunft neu gestalten konnten.
Die Interviews, die Köhn mit Blick auf die Empfindungen und Erinnerungen der deutschen Bewohner der einstigen DP-Räume führte, zeugen von den vielschichtigen Beziehungen zwischen Deutschen und DPs genauso wie von tradierten Vorurteilen. DP-Camps, ob privater oder nicht-privater Natur, waren auf vielfältige Weise mit der deutschen Umgebungsgesellschaft verwoben. Köhn hätte einige dieser Beziehungsgeflechte zusätzlich abfragen oder erwähnen können, um diesen Alltag zu illustrieren: deutsche Frauen, die als Kindermädchen und Putzfrauen in DP-Camps arbeiteten oder Kontakte von DPs mit deutschen Behörden, wenn Heiraten und Geburten registriert wurde, oder, sofern es sich um "free living DPs" handelte, deren Verhältnis zum deutschen Vermieter. Es ist anzumerken, dass im Gegensatz zu in deutschen Familien tradierten Berichten über den Nationalsozialismus, den Krieg oder die Flucht Erinnerungen an DPs in der Regel nicht an Nachgeborene weitergegeben werden.
Mit seiner paradigmatischen Studie hat Holger Köhn neue Standards in der DP-Forschung entwickelt. Es ist ihm zudem gelungen, den Raum, den DPs bewohnten, wieder sichtbar zu machen, und es bleibt zu wünschen, dass diese Räume in Zukunft wieder erinnert werden.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ben Shephard: The Long Road Home. The Aftermath of the Second World War, London 2011 (59).
[2] Vgl.: Ulrike Goeken-Haidl: Der Weg zurück. Die Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Essen 2006; Pavel Polian: Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im 'Dritten Reich' und ihre Repatriierung, München 2001.
[3] Vgl. Die neuere Forschung, u.a.: Suzanne Bardgett / David Cesarani / Jessica Reinisch / Johannes-Dieter Steinert (eds.): Survivors of Nazi Persecution in Europe after the Second World War. Landscapes after Battle, Vol. 1, London 2010, Vol. 2: London 2011; Michael Brenner (Hg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart: Politik, Kultur und Gesellschaft, München 2012; Gerard Daniel Cohen: In War's Wake: Europe's Displaced Persons in the Postwar Order, New York 2012; Atina Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte: Begegnungen im besetzten Deutschland, Göttingen 2012; Anna Holian: Between National Socialism and Soviet Communism. Displaced Persons in Postwar Germany, Ann Arbor 2011; Avinoam J. Patt / Michael Berkowitz (eds.): We are here. New Approaches to Jewish Displaced Persons in Postwar Germany, Detroit 2010; Christian und Marianne Pletzing (Hgg.): Displaced Persons. Flüchtlinge aus den baltischen Staaten in Deutschland, München 2007; Veröffentlichungen des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Nürnberg 2002 ff. (http://www.nurinst.org).
Susanne Urban