Daniëlle De Vooght: The King Invites. Performing Power at a Courtly Dining Table (= European Food Issues; No. 2), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2012, 285 S., ISBN 978-90-5201-752-5, EUR 39,10
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Der König lud ein - und was gab es zu essen? Dass diese Frage keineswegs banal ist, sondern eine besondere Dimension monarchischer Machtpolitik freilegt, zeigt Daniëlle De Vooght in ihrer Brüsseler Dissertation. Mit der Analyse der Tafelgesellschaften der ersten beiden belgischen Könige Leopold I. (1790-1865) und Leopold II. (1835-1909) will sie erklären, ob und welche Macht Belgiens Monarchen im 19. Jahrhundert besaßen. Möglich machen dies soziologische Theorien, die im gemeinsamen Essen eine "ungeheure sozialisierende Kraft" verborgen sehen. [1] Warum die Machtfrage für Belgien berechtigt ist, deutet De Vooght an, wenn sie kurz auf die liberale Verfassung eingeht, mit der sich das Königreich im Februar 1831 begründete. Der König besaß danach keine Macht per se, sondern nur die, die ihm die Verfassung und die Minister der Regierung zugestanden. Sichergestellt wurde dies im Artikel 106, der den Ministern die letzte Verantwortung übertrug und dazu des Königs Tun an deren Gegenzeichnung band. Der König konnte also nur mit einer Ministerunterschrift und nie allein agieren bzw. regieren. Leopold I. war sich dessen bewusst, wollte aber nicht als bloße Marionette fungieren und suchte sein Leben lang die konstitutionellen Fesseln zu lockern. Seine versuchte Beeinflussung politischer Entscheidungen führte - wie auch später bei seinem Sohn Leopold II. - zu häufigen Auseinandersetzungen mit dem Parlament.
Die Forschung blendete dies lange Zeit aus, reduzierte beide Könige auf ihre repräsentative Funktion und sah in ihnen lediglich Symbole nationaler Identität. Erst jüngst wurde dem widersprochen und kritisiert, dass das Zusammenspiel von Macht und Zeremoniell für die Zeit nach der Französischen Revolution signifikant unterschätzt werde und politische Macht im 19. Jahrhundert nicht allein in der Hand des belgischen Parlaments gelegen habe (G. Deneckere). De Vooght setzt an diesem Punkt an und will prüfen, inwieweit auch der königliche Hof trotz konstitutioneller Restriktionen ein Ort politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Macht war und an die Traditionen des Ancien Régime anschließen konnte. Ausgehend von der Annahme, dass Macht und Einfluss an sozialen Netzwerken abgelesen werden können, konzentriert sie sich dazu auf die Personen, die an der Tafel um den König zusammenkamen, und untersucht deren Verbindungen zueinander mithilfe einer auf relationale Datenbank(en) gestützten sozialen Netzwerkanalyse (SNA). Zusätzlich wertet sie die dargebotenen Gerichte qualitativ aus, um zu klären, ob der Hof weiterhin als kulturell-kulinarisches Zentrum fungierte und ob bzw. wie das Essen als Instrument sozialer Ordnung eingesetzt wurde. Festessen und alltägliche Tafeln werden dabei gleichermaßen einbezogen. Als Quellengrundlage dienen die Gästelisten und Menükarten des belgischen Hofes, in denen die personelle und materielle Ausgestaltung der Tafeln seriell überliefert wurden.
Die Studie teilt sich nach der konzisen Einleitung in ein theoretisches und ein empirisches Großkapitel. Der erste Teil reflektiert zunächst aus soziologisch-theoretischer Perspektive über Macht und Essgewohnheiten, erläutert das methodische Vorgehen und skizziert verknappt den historischen Kontext. Fragehorizont und Gegenstand der Studie werden dabei noch einmal konkretisiert: Der Hof werde als Haus und Haushalt der Königsfamilie verstanden. Doch um den Hof als solchen gehe es nicht, sondern um das höfische Essen, das von der Königsfamilie, Hofangestellten und Tafelgästen verspeist wurde. Trotz des prosopografischen Ansatzes gehe es zudem nicht darum, die Gäste der Hoftafel mit ihrem jeweiligen biografischen Hintergrund zu analysieren, wenngleich De Vooght einräumt, dass so wertvolle Einsichten über soziale und politische Beziehungen gewonnen werden könnten. Sie braucht dies aber nicht. Denn ob und welche politischen Informationen oder Ressourcen letztendlich ausgetauscht und tatsächlich zur Machtausübung genutzt wurden, will sie nicht wissen. Sie tritt einen Schritt hinter Inhalt und Wirkung von sozialen Beziehungen zurück und will die zugrunde liegenden Strukturen des höfischen Machtgefüges - oder vielmehr des "culinary network" - freilegen.
Dies gelingt in der eigentlichen Auswertung der historischen Quellen im zweiten, weitaus umfangreicheren Teil. Dort wird der Leser in mancherorts recht spröder, aber doch eindrucksvoller soziologischer Manier mit Zahlen, Diagrammen und Tabellen zu der Erkenntnis geführt, dass der belgische Hof keineswegs ein Ort war, an dem die Reichen und Mächtigen der Nation regelmäßig oder gar täglich aufeinander trafen. Das Gros der Tafelgäste sah sich dort nur äußerst selten ein zweites Mal oder nur einmal pro Jahr wieder. Für sie war der Hof ein Ort, an dem Kontakte zur gesellschaftlichen Prominenz geknüpft, aber nicht dauerhaft gepflegt werden konnten. De Vooght interpretiert dies als Bruch mit den Traditionen des frühneuzeitlichen Hofes, verabschiedet sich damit aber nicht von ihrer These der Machtausübung qua Tafel. Denn die Einladungen der Könige folgten einem veritablen System, das nicht auf Persönlichkeiten, wohl aber auf gesellschaftliche Funktionen abzielte: Minister der Regierung, Parlaments- und des Senatsmitglieder, hohe Militärs, Diplomaten, Richter und Industrielle dominierten die Gästelisten. Schlüsselpositionen unter den wenigen regelmäßigen Anwesenden nahmen - sowohl bei Leopold I. als auch bei Leopold II. - der Außenminister und der Kriegsminister ein. Warum gerade diese beiden Funktionsträger häufiger als andere am Hof speisten, welche Rolle dabei die konstitutionellen Restriktionen spielten, und warum bestimmte Gäste (gezielt) zusammen eingeladen wurden, liegt außerhalb des Fragehorizonts der Studie. De Vooght belässt es stets bei knappen Spekulationen, zum Beispiel über einen Zusammenhang mit der Eröffnung des Suezkanals oder mit dem Erwerb des Kongos.
Aus der qualitativen Analyse der Menükarten zieht De Vooght den Schluss, dass auch am belgischen Hof das Essen als soziales Distinktionsinstrument fungierte. Entsprechend der sozialen Hierarchie des Hofes sei zwischen den Speisen für die Königsfamilie, hohen Würdenträger und das niedere Personal in Art, Zahl, Qualität, Kosten und Zubereitung unterschieden worden. Der Weg dorthin ist eigenwillig. Alle Mahlzeiten werden klassifiziert in "ordinary", "average", "distinguished" und "exclusive" (74) und zunächst ohne Rücksicht auf soziale Gruppen am Hofe als Ganzes ausgewertet. Der Leser lernt daraus viel: Vom Abendessen als wichtigste Mahlzeit im 19. Jahrhundert, von der überschätzten Bedeutung des Fleisches und von der Veredlung durch Desserts. Danach wird das Essen pro Tischgesellschaft auseinanderdividiert - fokussiert auf das Königspaar und jene Tafelgäste, die nicht zum Hof gehörten. Ihnen wurden immer exklusive Speisen serviert. Allerdings wurden nicht immer Gäste geladen. Das königliche Paar aß gern allein und auch dann auf hohem Niveau. Um 1900 macht De Vooght schließlich Nivellierungstendenzen aus. Das Essen des Hofpersonals habe sich verbessert, womöglich weil der Hof auf die veränderten Ernährungsgewohnheiten der Mittelklasse reagierte. Eine Vorreiterrolle könne er folglich nicht gespielt haben. Trotz hoher Qualität setzte die belgische Hofküche keine Trends. Der Hof war daher eher "a center of diffusion, instead of a locus of (cultural) power" (243).
De Vooghts Studie, insbesondere die Speisenanalyse ist fraglos ein bedeutender Beitrag zur food history und materiellen (Hof)Kultur. Die arbeitsaufwendige soziologische Auswertung der Gästelisten deckt die strukturelle Möglichkeit der Einflussnahme auf. Das ist neu und aufschlussreich. Es ist nun an der Forschung, diese Struktur mit Leben zu füllen und das kulinarische Netzwerk des belgischen Hofes mit Ereignissen und Biografien fundiert in Verbindung zu setzen.
Anmerkung:
[1] Georg Simmel: Das Individuum und die Freiheit, Frankfurt am Main 1993, 206.
Stefanie Freyer