Rezension über:

Ágnes Tóth: Rückkehr nach Ungarn 1946-1950. Erlebnisberichte ungarndeutscher Vertriebener (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 43), München: Oldenbourg 2012, 389 S., ISBN 978-3-486-71206-3, EUR 49,80
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Rezension von:
Sakine Yildiz
Universität Osnabrück
Empfohlene Zitierweise:
Sakine Yildiz: Rezension von: Ágnes Tóth: Rückkehr nach Ungarn 1946-1950. Erlebnisberichte ungarndeutscher Vertriebener, München: Oldenbourg 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 1 [15.01.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/01/24116.html


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Ágnes Tóth: Rückkehr nach Ungarn 1946-1950

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Ágnes Tóth hat 2008 eine Studie über die Rückkehr heimatvertriebener Ungarndeutscher vorgelegt, die eine Lücke in der Historiografie über die Zwangsmigration im Kontext des Zweiten Weltkriegs schließt und die nun aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt wurde. Die Autorin stellt eingangs ihre Forschungsziele und Methoden ausführlich vor und benennt die soziografischen Merkmale ihrer Interviewpartner, bevor sie mit der Analyse ihres empirischen Materials beginnt. Im letzten Teil der Studie sind 19 ausgewählte Interviews abgedruckt.

In einer historischen Einführung schildert Ágnes Tóth zunächst, was in Ungarn nach Kriegsende geschah. Die Regierung wollte bis zu 250.000 Deutsche in die sowjetische Besatzungszone abschieben. Offiziell wurde nur von der Aussiedlung philofaschistischer volksdeutscher Aktivisten gesprochen, doch nicht wenigen ging es darum, die deutsche Minderheit als Ganzes loszuwerden. Schließlich wurden alle Personen, die angaben, deutscher Nationalität zu sein und Deutsch als Muttersprache zu sprechen, dazu gezwungen, das Land zu verlassen. Ausnahmen gab es lediglich für Frauen und Männer, die in sogenannten Mischehen lebten oder die sich aktiv am Kampf gegen die deutschen Besatzer beteiligt hatten.

Dieser beachtliche Bevölkerungstransfer war schlecht vorbereitet, die gesetzliche Basis war lückenhaft und die Kontrolle alles andere als ausreichend. Auch wenn es kritische Stimmen gab - etwa von katholischen und evangelischen Würdenträgern -, drängten die wichtigsten politischen Kräfte Ungarns darauf, die deutsche Minderheit zu vertreiben. Von Kollektivschuld war zwar nicht die Rede, de facto folgte die Zwangsaussiedlung aber diesem Prinzip. Insgesamt wurden 116.800 Personen aus Ungarn vertrieben, von denen etwa 116.000 in den Westen und 50.000 in den Osten des geteilten Deutschland kamen. Erst 1950 erhielten die in Ungarn verbliebenen Deutschen die gleichen Rechte wie andere ungarische Staatsbürger. Mindestens 8.000 bis 10.000 Personen kehrten daraufhin in ihre Heimat zurück - und um diese geht es Ágnes Tóth vor allem.

Die Studie basiert im Wesentlichen auf Interviews, deren Ziel es war, die komplexen Motive zu erfassen, die der Heimkehr nach Ungarn zugrunde lagen. Die Männer und Frauen des Samples waren deutscher Abstammung, nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vertrieben worden, dann aber illegal oder mit offizieller Genehmigung zurückgekehrt. Um den Motiven auf die Spur zu kommen, stellt Tóth die Frage nach der gesellschaftlichen Integration bzw. Desintegration in den Mittelpunkt der Interviews. Dabei geht es ihr in erster Linie um die Erlebnisse und Erfahrungen der Beteiligten. Lebensgeschichten sind für sie im Sinne der Oral History keine Ergänzung der schriftlichen Quellen, sondern ein "reflektiertes Ganzes". Ágnes Tóth arbeitet heraus, wie ihre Interviewpartner Konflikte um Sprache, Religion, Politik und Enteignung sowie schließlich den Heimatverlust erfuhren und deuteten. Zitate aus den Interviews dienen nicht nur der Illustration, sondern verstärken und untermauern die Analyse der Autorin.

Es ist bemerkenswert, dass mehrere Gesprächspartner Parallelen zwischen ihrem eigenen Schicksal und dem der verfolgten Juden zogen. Auch zeigt sich in den Interviews, wie kulturelle Unterschiede zwischen Deutschen und Ungarndeutschen zu Unverständnis und Diskriminierung führten. Das Stigma "ungarische Zigeuner", mit dem viele Ungarndeutsche in der fremden Heimat gebrandmarkt wurden, ist dafür nur ein Beispiel. Andererseits scheinen sich die alltäglichen Lebensumstände der "Neubürger" vielfach nicht wesentlich von denen der Einheimischen unterschieden zu haben. Was die Arbeitswelt betrifft, so mussten die meisten Ungarndeutschen von vorn anfangen; entsprechend hoch war unter ihnen die Arbeitslosigkeit. Und wer Arbeit fand, hatte es meist mit einem neuen Beruf zu tun, etwa im Bergbau. Der Abschied vom erlernten Beruf symbolisierte damit auch den Verlust des früheren Lebens.

Die Gründe für die Rückkehr nach Ungarn waren vielfältig; zumeist ging es um Sehnsucht nach der Heimat oder das Gefühl des Fremdseins in Deutschland, das sich nicht abschütteln ließ. Wer zurückkehrte, musste wieder in Ungarn Fuß fassen - und das war schwierig genug. Der erste Schritt bestand darin, einen Aufenthaltstitel zu erhalten, dann galt es, eine ökonomische Basis zu finden. Nicht wenige Interviewpartner, die in den Wirren der Vertreibung die Konflikte zwischen Ungarn und Ungarndeutschen betont hatten, berichteten von der Hilfsbereitschaft, die sie nach ihrer Rückkehr erfahren hätten.

Ágnes Tóth lässt ein vergessenes Kapitel aus der Geschichte von Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung wieder lebendig werden, auch wenn die Übersetzung zum Teil sperrig ist. Ihre Studie zeigt auch, welches Potenzial im Konzept der Oral History steckt.

Sakine Yildiz