Konrad Maier (Hg.): Nation und Sprache in Nordosteuropa im 19. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts; Bd. 9), Wiesbaden: Harrassowitz 2012, 386 S., ISBN 978-3-447-05837-7, EUR 38,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Band versammelt 21 Beiträge zu einem zentralen Thema des nation building im (nord-)östlichen Europa, der Sprache. Gemeinsam ist diesen Regionen und dieser Epoche die bis zum 19. Jahrhundert weit verbreitete Selbstverständlichkeit von multiethnischen und mehrsprachigen Gesellschaften. Ihre zunehmende Infragestellung im 19. Jahrhundert ging einher mit neuen Ideen von einer staatlich-gesellschaftlichen Strukturierung, in der Sprache und Nation eng verbunden waren. Die zum Teil aus einer Tagung von 2005 hervorgegangenen Beiträge beschreiben und analysieren die Sprachenfrage innerhalb von Imperien, (Groß-)Staaten und Regionen unter den Gesichtspunkten der Kolonisierung, der Aufklärung, von Nationalbewegungen, Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibungen. In geografischer Hinsicht stehen der Nordwesten des Russländischen Reiches, der Osten Preußens und Skandinavien im Mittelpunkt der Forschungen. Hinzu kommen Fragen des Ukrainischen, des Kroatischen und Serbischen sowie der Sprache und Literatur der Roma.
In den Beiträgen werden die Funktionen der einzelnen Sprachen in den Regionen differenziert betrachtet: Herrschafts- und Verwaltungssprachen, verbotene Sprachen, schichtenspezifische Sprachen, Hoch- und Volkssprachen und linguae francae. Untersucht werden auch Intentionen und Wirkungen von Protagonisten der Sprachforschung, -verbreitung und -nutzung.
In seiner kurzen Einleitung beschreibt der Herausgeber Konrad Maier einige Funktionen von Sprache im Kontext des Sammelbandthemas: "Identifikationsraum einzelner, autochthoner Gruppen", "einfaches Kriterium zur Definition einer Wir-Gemeinschaft", "emotionaler Sehnsuchtsort" (9). Maier verweist auf zunehmenden Sprachpurismus und Monolingualität, die seit der Mitte des 19. Jahrhundert an die Stelle der früher geforderten Diglossie und Mehrsprachigkeit getreten seien. Für den Sammelband nimmt er eine strukturell-vergleichende Perspektive in Anspruch (10), die jedoch, um es vorweg zu nehmen, nur ansatzweise eingelöst wird.
Es geht weniger um neue Herangehensweisen als vielmehr um solide erarbeitete Beiträge zu unterschiedlichen Facetten dieses vielschichtigen Großraums, etwa auf der Basis von Miroslav Hrochs grundlegenden Forschungen zur wechselseitigen Beeinflussung von Sprach- und Nationalverständnis (Ricarda Vulpius, Erkki Kuori, Mathias Niendorf). Konzeptionell interessant ist der Aufsatz von Christian Giordano. Er stellt ausgehend von Thesen Max Webers, des Sozialanthropologen Frederik Barth und des Soziologen Rogers Brubaker "Überlegungen aus sozialanthropologischer Sicht" zu Sprache und Nation an, die die geografischen und zeitlichen Grenzen des Bandes deutlich überschreiten. So beschreibt er für Osteuropa insgesamt vier sprachliche Homogenisierungswellen von 1875 bis heute und plädiert dafür, den eurozentrischen Blickwinkel zu erweitern, indem er als Beispiel die nicht ganz spannungsfreie aktuelle Kultur- und Sprachenpolitik Malaysias heranzieht, die multikulturell und -lingual orientiert ist.
Auch Ralph Tuchtenhagens Beitrag zeigt ein Beispiel pragmatischen Umgangs der Politik mit der Sprachenfrage: Aus ökonomischen Gründen schien es wenig zweckmäßig, die breite, bildungsferne Bevölkerung Finnlands kulturell und sprachlich zu schwedisieren. Von einem zuweilen romantisch verklärten Blick auf die "Volkskulturen" im Baltikum handeln die Beiträge von Karsten Brüggemann, Kaspars Klaviņš und Jürgen Joachimsthaler. Deutsch(baltisch)e und russische Intellektuelle schärften ihr Überlegenheitsgefühl im Umgang mit Esten, Letten und Litauern oder dem, was sie von deren Kultur aus der Ferne rezipierten. Der gewissermaßen koloniale Blick war dabei oft Teil der in bester Absicht durchgeführten Erforschung, Rezeption und Aufklärung der vorwiegend agrarischen Lebenswelten. Ulrike Plath und Arnim von Ungern-Sternberg widmen sich jeweils der deutschbaltischen Sprachwirklichkeit. Gemäß Plath lernten Kleinkinder häufig von ihren Ammen eine der Volkssprachen, bevor sie gezielt in Deutsch unterwiesen wurden. Ungern-Sternberg weist darüber hinaus auf strukturell ähnliche Herausforderungen der Selbstbehauptung für die Oberschicht von Esten, Letten und Deutschbalten hin. Regina Hartmann stellt anhand von Auszügen zweier Reiseberichte aus den 1870er Jahren aus Preußisch-Litauen den Blick von außen auf Sprache und Kultur dar.
Jeweils einen Protagonisten der Sprachermittlung und -erneuerung stellen Tiina Kala und Anna Gajdis vor: Pastor Heinrich Christopher Wrede und sein Wirken für das Estnische in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert beziehungsweise den Volksdichter Michał Kajka als Identifikationsfigur der polnischsprachigen Masuren seit Ende des 19. Jahrhundert. In beiden Beiträgen wird auch die Verbindung von Sprachgebrauch und Religion beziehungsweise Konfession angeschnitten - ein Thema von erheblicher Bedeutung für die Frage, ob die Sprache als Identifikationskriterium (9) im 19. Jahrhundert die Konfession in dieser Funktion ablöste.
Der Sprachpolitik und -standardisierung gehen fünf Beiträge nach. Der komparative Ansatz von Gabrielle Hogan-Brun, Dag Trygve Truslew Haug und Stephan H.I. Kessler zu Norwegen und Litauen zeigt, dass sich in der longue durée bis zum Ende des 20. Jahrhundert die Standardisierungsbemühungen in beiden Regionen von volkssprachlichen Idiomen abwandten. Kessler schreibt explizit die "Misserfolgsgeschichte" der Bemühungen um Lettgallisch und Schemaitisch, die sich nicht etablieren konnten, weil ihnen ein Macht- und Herrschaftszentrum fehlte. Vor diesem Hintergrund werden die "Erfolgsgeschichten" anderer Sprach- und Nationsbildungsprozesse im Sinne unter anderem einer Emanzipierung, wie sie Pēteris Vanags für das Lettische schildert, erst verständlich.
Wie sich Standardisierung in kolonialen Kontexten auch im Untergrund beziehungsweise Exil vollziehen kann, verdeutlicht Giedrius Subačius am Beispiel des Litauischen, nachdem für sie 1864 die kyrillische Schrift verbindlich eingeführt worden war. Unter dem Aspekt der konkurrierenden Nationsbildung statt eines imperial-kolonialen Kontextes interpretiert Vulpius die große Bedeutung der Sprache für Russo- beziehungsweise Ukrainophile.
Was Vielfältigkeit für eine Sprache in Kontaktzonen bedeuten kann, zeigt anschaulich Niendorf anhand des Litauischen, das in vier Alphabeten geschrieben wurde: kyrillisch, arabisch, lateinisch und hebräisch. Im Großfürstentum Litauen waren Sprache und Selbstzuordnung nicht zur Deckung gekommen, und in der Deutung des späteren Staatspräsidenten Antanas Smetona überlagerte die Bedeutung der Sprache die der "Blutsgemeinschaft". Die fünf weiteren Beiträge zur Rubrik "Sprache und Nation" des Bandes untersuchen noch einmal das Großfürstentum Finnland (Erkki Kuori) und Estland (Cornelius Hasselblatt) sowie den kolonialen Blick preußischer Verwaltungsbeamter (Hans-Jürgen Bömelburg), die das Polnische und Litauische vor allem im Schulwesen zurückzudrängen versuchten und die Sprache als Vehikel zur Zivilisierung der bäuerlichen Bevölkerung betrachteten. Eine gezielte und zentrale Steuerung aus Berlin allerdings lässt sich erst seit 1870 nachweisen. Ähnlich wie in Litauen fehlte auch bei den Roma eine Verbindung von Sprache und einer nationalen Identität. Deren Auswirkungen im 19. und 20. Jahrhundert erklärt Hans-Christian Trepte. Anders Wolfgang Kessler, der die wechselseitige Beeinflussung der Konstrukte von Sprache und Nation im kroatischen und serbischen Kontext untersucht - ein Fall konkurrierender Sprach- und Nationsbildung.
Da die sprach-, literatur-, geschichtswissenschaftlich oder soziologisch-anthropologisch orientierten Einzelstudien weitgehend nebeneinander stehen, sind die postulierten Vergleiche vorwiegend vom Leser zu leisten. Weiterführende Fragen wie die, ob die Sprache während des 19. Jahrhunderts die Konfession als Identifikationsraum sukzessive ersetzte, werden nicht gestellt und wären Themen für eine stärker komparativ ausgerichtete Forschung.
Ragna Boden