Stefanie Freyer: Der Weimarer Hof um 1800. Eine Sozialgeschichte jenseits des Mythos (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 13), München: Oldenbourg 2013, 575 S., ISBN 978-3-486-72502-5, EUR 69,95
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Weimar nahm eine mit vielen anderen kleineren bis mittleren Höfen deutscher Territorialität vergleichbare Position ein, seit 1532 Herzog Johann Friedrich (I.) der Großmütige (von 1532 bis 1547 auch Kurfürst) die Stadt - die Stadtrechte wurden 1410 verliehen - zum politischen und kulturellen Mittelpunkt seines Landesteils im Herzogtum Sachsen-Weimar bestimmte. Das änderte sich zunächst auch nicht, als 1741 das ernestinische Herzogtum Sachsen-Eisenach an Sachsen-Weimar fiel. Änderungen standen allerdings an, als gegen Ende des 18. und zu Beginn des "langen" 19. Jahrhunderts unter den Regentschaften von Herzogin Anna Amalia (1739-1807) aus dem Hause Braunschweig-Wolfenbüttel und ihrem Sohn, dem Erbprinzen und Herzog Carl/Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757-1828) die "Weimarer Klassik" anbrach. Die frühneuzeitliche Herzogsresidenz mutierte jetzt zu einem europäischen Musenhof, wo sich mit- und nacheinander Dichterfürsten und andere Kulturpäpste ihr Stelldichein gaben. Mit Goethe, Schiller, Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder, Johannes Daniel Falk und vielen anderen Repräsentanten der jungen deutschen Kulturnation wuchs Weimars Hof aus seinem provinziellen Schatten; er erlangte Weltgeltung.
Ungeklärt blieben bisher aber die Fragen, in welchem sozialen und wirtschaftlichen Umfeld es zu dieser ebenso rasanten wie monokausalen Entwicklung kam, zumal die zeitgenössischen Quellen um 1800 an keiner Stelle den Weimarer Hof als Musenhof titulierten. War dies alles ein Konstrukt der Historiker? In erster Linie wäre hier an den Leipziger Alt- und Kulturhistoriker Wilhelm Wachsmuth (1784-1866) zu denken, der sich Jahrzehnte nach dem Tod Carl Augusts forschend dem "Lieblingssitz der deutschen Musen" (11) zuwandte. Seine vielfach rezipierte "Historische Skizze" zu "Weimars Musenhof in den Jahren 1772-1807", erschienen Berlin 1844, war einflussreich, sie wirkte mythenbildend und blieb in ihrer Kernthese kaum bestritten. Symptomatisch für die Verzeichnung des ebenso komplexen wie am Herkommen orientierten Hoflebens blieb dessen Einschätzung, für Herzog Carl August seien der "Zwang der geregelten Hofsitte und die Langweiligkeit des nur im ceremoniellen Gleise wandelnden Hofstaates [... allenfalls] lästig" gewesen. (Wilhelm Wachsmuth, 36)
In einer entmythologisierenden, dafür aber sorgsam recherchierten und quellenorientierten Studie ging Stefanie Freyer, deren Dissertationsprojekt dem DFG-gestützten Sonderforschungsbereich 482 "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800" mit dem Teilprojekt "Hof, Herrschaft und politische Kultur" zuzuordnen ist, nach Auswertung aller einschlägigen Quellenbestände im thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar der Profilbildung des Weimarer Hofes nach. Das erstmals von Reinhart Koselleck postulierte Vetorecht der Quellen wird dabei der Thesenführung beigestellt. Freyer will nicht mehr, aber auch um nicht weniger, als das Phänomen Hof - hier am Beispiel Weimar - aus einer zu schablonenhaften Modellforschung zu entlassen. Die sächsische Hof- und Residenzenlandschaft, für die in Rückgriff auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann eine kommunikationshistorische Sichtweise, wie sie beispielsweise Mark Hengerer und Andreas Pečar für den Wiener Hof erprobten, sehr viel näher kommt als der wenig griffige Typus Musenhof, war vielseitig. Und man orientierte sich am hergebrachten Zeremoniell früherer Generationen. Orientierungslinien wurden fünf größeren Quellenbeständen entnommen. Dazu zählten die zeitgenössischen Konvolute der Zeremonialwissenschaft, auf deren Bedeutung für die Hofforschung bereits 1998 Miloš Vec hinwies, die Hof-, Staats- und Adresskalender des Fürstentums Sachsen-Weimar-Eisenach, die Kirchenbücher, die Überlieferung der Weimarer Hofämter (vor allem: Hofmarschallamt) und schließlich die Fourierbücher. Letztere sind als serielle Quelle für den Zeitraum von 1748 bis 1918 trotz kleinerer Lücken besonders geeignet, um Kontinuitätsfragen an das Weimarer Hofgeschehen zu stellen.
Überzeugend wurde trotz kleinerer Lücken im Literaturverzeichnis - vergleichende Blicke auf entsprechende Projekte der Kieler Residenzen-Kommission hätten hier leicht Abhilfe geschaffen - der Mythos Weimar hinterfragt. Anna Amalia und Carl August waren keineswegs auf das Prestige der genannten Kultur- und Geistesgrößen angewiesen im Sinne eines Fremdkapitals, frei nach Pierre Bourdieu. Der Anspruch Weimars in der Hierarchie sächsischer wie deutscher Fürstenhöfe war vielmehr zweigleisig fundiert und angelegt. Die Kombination aus Kultur und Zeremoniell blieb auch in Napoleonischer Zeit und darüber hinaus bis 1828 wesensbestimmend. Das Konstrukt Musenhof ging daher an der sozialen Realität Weimars und seiner bedeutenden Herzogsresidenz vorbei. Dies an einem der europäischen Vorzeigehöfe - in den Jahren 1790 bis 1810 umfasste der Hof immerhin zwischen 448 und 570 Personen (94) - aufgezeigt bzw. dekonstruiert zu haben, ist das große Verdienst der im Münchner Oldenbourg Verlag mit Register und Anhang zwar sorgfältig, aber leider ohne Abbildungen gedruckten Jenenser Dissertation des Wintersemesters 2011/12.
Wolfgang Wüst