Oliver Salten: Vasallität und Benefizialwesen im 9. Jahrhundert . Studien zur Entwicklung personaler und dinglicher Beziehungen im frühen Mittelalter (= texte zur historischen forschung und lehre; Bd. 1), Hildesheim: Verlag Dr. Franzbecker 2013, X + 478 S., ISBN 978-3-88120-870-3 , EUR 36,80
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Bis vor wenigen Jahren galt es als ausgemacht, dass das Rechtsinstitut des Lehnswesens in der Karolingerzeit als Verbindung von Vasallität und Landleihe entstanden sei, mit dem Ziel, den Kriegsdienst der Vasallen naturalwirtschaftlich zu entlohnen. Inzwischen wird diese traditionelle Auffassung von der historischen Forschung radikal in Frage gestellt, und es herrscht mittlerweile sogar ein gewisser Konsens darüber, dass von lehnrechtlichen Beziehungen erst seit dem Hochmittelalter - wenn überhaupt - wirklich die Rede sein kann. Indes fehlte bis jetzt hinsichtlich der Karolingerzeit noch eine tragfähige empirische Grundlage für diese Vermutung, und erst recht fehlten Aussagen darüber, worin stattdessen die Funktionen von Vasallität und Benefizialwesen bestanden, die jeweils für sich genommen im 8. und 9. Jahrhundert ja zweifellos bereits existierten. Diese Lücke wird durch die vorliegende Bonner Dissertation nun in wichtigen Bereichen geschlossen, wobei die Benefizien freilich nur im Hinblick auf ihre mögliche Verbindung zur Vasallität behandelt werden. Das ist eine durchaus vernünftige Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes, geht allerdings aus der Titelformulierung nicht so eindeutig hervor. Dafür wird die zeitliche Einschränkung des Untertitels recht großzügig gehandhabt, kommen doch immer wieder auch die Verhältnisse des 8. Jahrhunderts zur Sprache.
Der erste Hauptteil widmet sich der Vasallität als personaler Beziehung und beginnt mit terminologischen Klärungen. Deutlich wird, dass die Quellenbegriffe fideles, homines, satellites und milites, die teilweise als synonym mit dem Wort vassi angesehen werden, sich in ihrem Bedeutungsfeld zwar mit dem Vasallitätsbegriff überschneiden, aber eben nicht mit ihm identisch und deshalb auch nicht zur eindeutigen Identifizierung von Vasallen geeignet sind. Dementsprechend meint auch die Bezeichnung senior nicht immer den Herrn eines Vasallen, sondern oft auch einen Vorgesetzten anderer Art. Der Kommendationsritus wird zwar auch beim Eintritt in ein Vasallitätsverhältnis angewandt, kann aber auch andere Formen der Unterordnung ausdrücken, was am Verhältnis der fränkischen Könige zum Bayernherzog Tassilo III., zum Dänenkönig Harald Klak sowie zu bretonischen und slawischen Fürsten demonstriert wird. Spezielle Vasalleneide scheint es nicht gegeben zu haben, eine besondere Form der "Knabenvasallität", wie sie Franz Staab 2001 zu erkennen glaubte, ist ebenso wenig zu entdecken, und der Dienst der Vasallen war nicht nur und vielleicht gar nicht in erster Linie militärischer Art, sondern lässt sich eher als Hofdienst beschreiben. Regionale Detailstudien zu Bayern, Alemannien und dem Westfrankenreich ergeben schließlich zum einen, "wie wenig die frühmittelalterliche Gesellschaft von der Vasallität durchdrungen worden ist" (235), und zum anderen, dass die wenigen bekannten Vasallen durchweg höheren Gesellschaftsschichten angehörten und über Verbindungen zum König oder zu königlichen Beamten verfügten.
Der zweite Hauptteil fragt dann nach dem Verhältnis des Benefizialwesens zur Vasallität und betrachtet zu diesem Zweck systematisch die verschiedenen Personengruppen, die Benefizien von den fränkischen Königen erhalten haben, von den einfachen Freien über Geistliche und Grafen bis hin zu den Vasallen. Dabei wird immer wieder deutlich, dass alle möglichen Personen, nicht allein Vasallen, Benefizien empfangen konnten und dass man sich das System der vasallitischen Abhängigkeiten nicht als starre Hierarchie, sondern "als ein durch vielfältige Beziehungen gespanntes Netz" (355) vorstellen muss.
Das Gesamtergebnis kann einen Kenner des gegenwärtigen Diskussionsstandes kaum überraschen: Vasallität und Benefizialleihe waren in der Karolingerzeit noch keineswegs aneinander gebunden, und vasallitische Bindungen waren kein hervorstechendes Merkmal der damaligen Gesellschaft oder der staatlichen Organisation. Überhaupt war Vasallität "ein recht dehnbarer Begriff" (21), der in zeitgenössischen Texten nicht selten zudem auch "untechnisch" verwendet wurde. Auf den ersten Blick bietet die Arbeit somit scheinbar bloß eine methodisch saubere Bestätigung eines aktuellen Forschungstrends, was immerhin auch eine durchaus anerkennenswerte Leistung wäre. Gelegentlich hat man sogar den Eindruck, dass bereits als beendet betrachtete Diskussionen noch einmal aufgegriffen, alte Schlachten noch einmal geschlagen werden. Das macht die Lektüre stellenweise etwas ermüdend, ist aber eigentlich nicht anzuprangern, sondern zeugt im Gegenteil von dem Bemühen des Autors, sich nicht auf Literaturmeinungen zu verlassen, sondern sich anhand der Quellen ein eigenes Bild zu machen.
Bemerkenswert ist jedoch darüber hinausgehend noch eine ganze Reihe von Einzelergebnissen, von denen an dieser Stelle nur wenige hervorgehoben seien: Dass Herzog Tassilo von Bayern, wie von den Fränkischen Reichsannalen behauptet, 757 in die Vasallität König Pippins eingetreten sei, wird schon seit einiger Zeit bezweifelt; nun stellt Salten dies auch für das Jahr 787 nachdrücklich in Frage (81-84). Entscheidend für die Verpflichtung zum Kriegsdienst war den Kapitularien zufolge nicht der Vasallenstatus, sondern der Besitz eines Benefiziums; erst dadurch, dass man im 19. und 20. Jahrhundert die Benefizieninhaber grundsätzlich für Vasallen gehalten hat, konnte der Eindruck entstehen, dass Vasallen in erster Linie Krieger waren (147-158). Die militares viri einiger Quellen hingegen waren keine Vasallen, sondern eher unfreie Berufskrieger, also eine Vorform der Ministerialität (50f.). Verzeichnisse von Benefizien, wie sie in den Kapitularien gelegentlich erwähnt werden, wurden jeweils aus aktuellen Anlässen angefertigt und waren nicht zur dauernden Aufbewahrung gedacht, weshalb sie immer wieder neu angelegt werden mussten (251-256). Und ein Trend zur Allodisierung von Benefizien in der späten Karolingerzeit ist entgegen diesbezüglichen Mutmaßungen nicht festzustellen (274).
Fazit: Selbst der Fachmann erfährt durch die vorliegende Untersuchung Belehrung in manchen Einzelheiten sowie einige Anregungen zum weiteren Nachdenken. Was will man von einer Doktorarbeit mehr erwarten?
Roman Deutinger