Markus Dressler / Ron Geaves / Gritt Klinkhammer (eds.): Sufis in Western Society. Global networking and locality, London / New York: Routledge 2009, X + 207 S., ISBN 978-0-415-45711-8, GBP 90,00
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Der anzuzeigende Sammelband geht der Frage nach, wie sich verschiedene Sufi-Bewegungen im "Westen" niedergelassen haben. Markus Dressler, Ron Geaves und Gritt Klinghammer haben einen vielfältigen Sammelband mit elf Beiträgen primär aus religionssoziologischer Perspektive zusammengetragen, die sich anhand eigener Feldstudien mit zeitgenössischen oder zeitgeschichtlichen Phänomenen des Sufismus in unterschiedlichen Regionen Nordamerikas und Westeuropas beschäftigen. Obgleich schon vereinzelte Arbeiten zum "westlichen" Sufismus erschienen sind, besitzen diese hauptsächlich einen bestimmten regionalen Schwerpunkt; [1] systematische und regional vergleichende Untersuchungen, wie der hiesige Sammelband, liegen bisher kaum vor. [2]
Die Herausgeber formulieren in der Einleitung (1-12) die Leitfragen des Bandes. Im Unterschied zu vielen bisherigen Forschungen zum Sufismus stehen weniger religiöse Texte oder normative Glaubensanschauungen im Fokus, sondern vielmehr die gelebte Religion in den jeweiligen Untersuchungsregionen. Wie der Untertitel des Sammelbands verrät, möchte er auch einen Beitrag zu der Frage nach den wechselseitigen Beziehungsverhältnissen von Globalisierung und Lokalität leisten. Ein Ziel wird mit der Dekonstruktion dieser vielfach binär und dichotom verstandenen Begriffe beschrieben; ein weiteres in der Transformation von Autorität und Authentizität im sufischen Islam des "Westens" (4-6). Die Aufsätze sind nach geographischen Gesichtspunkten geordnet: Die ersten vier Beiträge von Peter Beyer (13-25), Marcia Hermansen (26-45), Michael Frishkopf (46-76) und Markus Dressler (77-96) greifen Phänomene des Sufismus aus Nordamerika auf, die darauffolgenden beiden Aufsätze von Ron Geaves (97-112) und Pnina Werbner (113-129) aus Großbritannien, zwei weitere von Gritt Klinkhammer (130-147) und Søren Christian Lassen (148-161) beziehen sich auf Deutschland und der vorletzte Beitrag von Catharina Raudvere und Ašk Gaši (162-179) auf Schweden. Der letzte Aufsatz von Mark Sedgwick (180-198) behandelt das transnationale Phänomen des Neo-Sufismus.
Die theoretischen Ausführungen des ersten Beitrages zur "Glocalization of Religions" des Religionssoziologen Peter Beyer nehmen Überlegungen der folgenden Beiträge vorweg. Beyer konstatiert, dass lokalen Strukturen auch bei globalen religiösen "superpowers" (16; 21) wie dem Islam eine zentrale Wichtigkeit zukommt. Religiöse Globalisierung dekonstruiere die Vorstellungen von Zentrum und Peripherie und gehe über in eine multi-zentrale Form religiöser Autoritäten und Authentizitäten in unterschiedlichen lokalen Kontexten, die Beyer als "Glokalisierung" von Religionen versteht. In global vernetzten Religionen wie dem Islam führe dies zuweilen zu einer Entkulturalisierung der Religion, da variierende kulturelle Ausprägungen zugunsten einer postulierten Einheit des Islam relativiert werden.
Auch in der sehr interessanten Feldstudie des Musikwissenschaftlers Michael Frishkopf zur Globalisierung der islamisch-sufischen "Soundworld" am Beispiel der kanadischen Stadt Edmonton in Alberta nimmt dieser Aspekt der Dekulturalisierung eine zentrale Rolle ein. Hierzu macht Frishkopf Anleihen bei der Globalisierungstheorie des Anthropologen Arjun Appadurai und ergänzt die funktionale Differenzierung von kultureller Globalisierung um die Dimension der "Soundscape" als ein Unterbegriff der "Mediascape" für die mediale Globalisierung von Klängen und Musik (60 f.). So beschreibt er die Globalisierung der islamischen Sufi-Musik in einem zweigliedrigen Transferweg: Zum einen über den "Ethnoscape", womit die Migration von Muslimminnen und Muslimen gen "Westen" (in dem Fall nach Alberta) gemeint ist, und zum anderen über den Soundscape, also die medial-globale Verbreitung ursprünglich islamischer bzw. sufischer Musik und Klänge. In den Reaktionen auf den Besuch eines Sufi-Musikers aus Ägypten stellt Frishkopf auch Unterschiede im Islamverständnis der ersten und der folgenden Migrantengenerationen fest: Während die erste Generation - noch von der religiös-kulturellen Prägung der Herkunftsregion beeinflusst - zumindest auf einer emotionalen Ebene empfänglich gegenüber sufisch-islamischer Musik sei, scheint dies für die folgenden Generationen nur bedingt der Fall zu sein. Die zweite und auch dritte Migrantengeneration ziehe mehrheitlich ein dekulturalisiertes und delokalisiertes Islamverständnis vor, das überwiegend textlich definiert sei und in dem die Musik als Kulturgut und illegitime Erneuerung der Religion (arab. bidʿa) negiert werde.
In seinem Beitrag zum Sufismus in New York nach dem 11. September veranschaulicht der Religionssoziologie Markus Dressler sehr systematisch die Diversität der dortigen sufischen Bewegungen. Dressler beschreibt New York zwar als eine säkulare und pluralistische Stadt mit ethnizistischen und religiösen Inklusionsmechanismen, sie sei aber nach den Anschlägen auch von xenophoben Stimmungen gegenüber dem Islam geprägt. Die Sufi-Kreise begegnen laut Dressler diesen Herausforderungen ganz unterschiedlich, wobei er drei idealtypische Verhaltenspraktiken im Weberschen Sinn in den Verhandlungen der Sufi-Gruppen mit den lokalen Kulturen herausarbeitet: Diese variieren zwischen exklusiver Abschottung (81 f.), partikularer Appropriation (82) und Hybridisierung bzw. "amalgamation" (83-85) amerikanisch-islamischer, in dem Fall sufisch geprägter, Identitäten. Dabei bestünden auch diverse Spannungen und Konkurrenzverhältnisse unter den jeweiligen Sufi-Bewegungen.
Anders als die entkulturalisierten Islamvorstellungen, die offenbar in Nordamerika vorherrschend sind, scheint in vielen Sufi-Bewegungen in Europa die distinkte ethnizistische Geprägtheit der jeweiligen Denomination wichtiger zu sein. So zeigt Ron Geaves in einer Zusammenfassung seiner umfangreichen Untersuchungen zum Sufismus in Großbritannien die enge Verbindung von Ethnizität und Religion (99-101) - ein Mitgrund, weswegen der Sufismus dort weniger erfolgreich nicht-muslimische Teile der Gesellschaft erreiche als etwa in den USA. Sehr anschaulich wird die Verwebung ethnizistischer und religiöser Identität am Beispiel der bosniakischen Gemeinde in Malmö (Schweden) im Beitrag der Religionswissenschaftler Catharina Raudvere und Ašk Gaši dargestellt. Vor allem die Ritualpraktiken der bosniakischen Communtiy in Malmö legen viele Einflüsse des Sufismus nahe; so ist die genuin sufische Gottesandacht des dhikr ein fester Bestandteil des wöchentlichen Kollektivgebets. Distinkt sufisch-mystische Glaubensanschauungen oder institutionelle Organisationsstrukturen im Stile der klassischen Ordensgemeinschaften (arab. ṭarĪqa) hingegen sind nach Raudvere und Gaši kaum präsent. Demnach betrachte man den dhikr auch nicht als eine Praktik des Sufismus, sondern vielmehr als nationales Erbe des bosnischen Islam (177). Da der Islam in der bosnischen Region schon seit der Frühneuzeit stark vom Sufismus beeinflusst sei, habe sich diese Gleichsetzung von sufischer und bosnisch-nationaler Ritualpraktik im kollektiven Gedächtnis der bosniakischen Gemeinde verankert.
In den elaborierten Feldforschungen zeigen die Autorinnen und Autoren, wie sich die Globalisierung des Sufismus, ob nun durch Migrationsbewegungen oder Ideentransfers, in den behandelten lokalen Kontexten Westeuropas und Nordamerikas manifestiert und wie neue Formen von Autorität und Authentizität verhandelt werden. Dabei wird deutlich herausgearbeitet, dass dies aber zu unterschiedlichen Anpassungs-, Abgrenzungs- oder Hybridisierungsprozessen führen kann. So wird die Diversität in den thematisierten Communities - sei es hinsichtlich eines kulturalisierten oder dekulturalisierten Islamverständnisses oder in Bezug auf die Unterschiede in den Migrantengenerationen - gut beleuchtet. Unterstützt wird die Lektüre mit einem angehängten Glossar zu Fachbegriffen des Sufismus. Allerdings wäre eine kurze Vorstellung der Autorinnen und Autoren, die unterschiedlichen Fachrichtungen angehören, ebenfalls hilfreich gewesen.
Angesichts der dargestellten Diversität erscheint der recht voraussetzungsreiche Titel des Sammelbandes schwer nachvollziehbar: Denn die "Western Society" steht im Singular und impliziert eine vereinfachte Einheit der in den Artikeln doch sehr unterschiedlich dargestellten Regionen in Nordamerika sowie in West- und Nordeuropa. Die normative und pauschalisierende Aufladung der Begriffe "Western Society" oder "Western" im Allgemeinen wird nicht problematisiert; der "Westen" steht ohne nähere Erläuterungen als ein Oberbegriff für Nordamerika und Europa (I; 1 f.). Zwar wird in der Einleitung kurz erwähnt, dass die Konstrukte "Ost" und "West" aufgrund der behandelten transnationalen Sufi-Netzwerke und der neuen sufisch-islamischen Autoritäten im "Westen" ihre geographische Signifikanz verlieren würden (4), allerdings hätte man diesem Aspekt etwas mehr Raum und Wichtigkeit beimessen können.
Davon abgesehen ist der Sammelband ein wichtiger Beitrag zur Erforschung des zeitgenössischen Sufismus und ein sehr bedeutender Impulsgeber für weitere Untersuchungen von Sufi-Bewegungen in Nordamerika und Westeuropa.
Anmerkungen:
[1] Ron Geaves: The Sufis of Britain: An exploration of Muslim identity. 2000 Cardiff; Pnina Werbner: Imagined Diasporas among Manchester Muslims: The public Performance of Pakistani transnational Identity Politics. 2002 Oxford.
[2] Eine Ausnahme ist der Sammelband von Jamal Malik und John Hinnels (Hrsg.): Sufism in the West. 2006 New York.
Cem Kara