"Wadjda" von Haifaa al-Mansour, 98 Minuten, Saudi-Arabien/BRD 2012

Von Assia Maria Harwazinski


Dieser erste Kinofilm aus Saudi-Arabien ist eine kleine Sensation, denn abgesehen von der Premiere eines cineastischen Langfilms aus einem Land, in dem es bisher kein Kino gibt, wurde er von einer Frau gedreht, die darin einige autobiographische Daten eingearbeitet hat. Die Schlüsselbegriffe dieses Films sind drei: Eine streng islamische Gesellschaft, ein zehnjähriges Mädchen mit einem unbeirrbaren Willen, ein grünes Fahrrad.

Die Geschichte spielt in Riyad, einer Stadt mit lebhaftem Straßenverkehr und viel staubigem Wüstensand, die dominante Farbe ist sandbeige. Dort spielt sich das Leben der zehnjährigen Wadjda ab, die mit ihrer durchschnittlich wohlhabenden Familie in einem komfortablen Haus wohnt. Ihre Mutter arbeitet außerhalb als Lehrerin, ihr Vater ist tagsüber ebenfalls des Berufes wegen abwesend. Sie selbst geht in die reguläre Schule, ihre Lieblingsfächer sind Biologie und Mathematik, und sie spielt auf dem Heimweg ab und zu mit einem befreundeten Nachbarsjungen gleichen Alters, der sie auf seinem Fahrrad begleitet. Sie necken sich auf die in diesem Alter übliche Weise, und Wadjda drückt aus, dass sie ihn irgendwann auf einem Fahrrad überholen wird. Er kontert, das würde sie nie schaffen, sie wisse doch, dass Mädchen nicht Fahrrad fahren dürfen. Auf ihrem Heimweg kommt sie täglich an einem Spielzeugladen vorbei, der unter Anderem draußen ein grünes Fahrrad ausgestellt hat. Es wird zu ihrem Wunschtraum.

Zuhause wird gut gekocht und gegessen, zu den geringen Vergnügungen gehört das Fernsehen, das allerdings nur ein begrenztes Programm zu haben scheint. Ihr Vater sieht vor allem gerne Action-Filme zur Entspannung, wenn er nicht gerade Freunde empfängt, die von seiner schönen Frau bekocht werden, ohne sie zu Gesicht zu bekommen. Die Mutter wird täglich von einem ausländischen Chauffeur, einem Pakistani, abgeholt und zu ihrem Arbeitsplatz am Rande der Wüste gefahren und wieder zurückgebracht. Sie trägt zum Lebensunterhalt bei, in mehrfacher Hinsicht. Gesellschaft leisten sich Mutter und Tochter gegenseitig. Ein Fahrrad als Wunsch zu erfüllen erscheint schwierig: Es ist nicht genug Geld vorhanden, und Mädchen dürfen dieser Aktivität nicht nachgehen in diesem Land. Doch Wadjda gibt ihren Traum nicht auf.

Eines Tages erfährt sie im Religionsunterricht von einem Koranrezitationswettbewerb, bei dem es Preise zu gewinnen gibt. Der Hauptpreis beträgt 1.000 Rial - was ihr den Erwerb des grünen Fahrrads für etwas über 800 Rial ermöglichen würde. Folglich entscheidet sie sich dazu, nun in zusätzlichen Koranunterricht zu gehen und die Verse intensiv zu erlernen, um sie fehlerfrei rezitieren und die Grundinhalte wiedergeben zu können. Zunächst fällt es ihr nicht leicht, sie macht viele Fehler, vergisst immer wieder einige Suren - und paukt hartnäckig weiter, das grüne Fahrrad vor ihrem inneren Auge. Ihre Religionslehrerin beobachtet ihre Entwicklung genau, die Direktorin ermahnt sie, sie solle bitte schwarze Mädchen-Lackschuhe tragen, wie die anderen, und nicht diese Turnschuhe mit lila Schnürsenkeln, die unter ihrem schwarzen Ganzkörperumhang hervorblitzen. Wadjda trägt ihre Turnschuhe weiter und büffelt eifrig Koranverse in der richtigen Intonation, immer das grüne Fahrrad im Hinterkopf. Nebenbei verlangt sie ab jetzt geldwerte Gegenleistung für kleine Botendienste und ähnliche Gefälligkeiten, um ihre Ersparnisse zu vermehren. Irgendwann erhält sie die ersten Lobe für ihren Lerneifer, der auf eine innere Wandlung und verstärkte Hinwendung zur Religion schließen und hoffen lässt. Als sie irgendwann nach ihrer Motivation gefragt wird, bleibt sie jedoch ehrlich und sagt, sie lerne für den Wettbewerbspreis, weil es genug Geld für das Fahrrad wäre. Die Schuldirektorin muss schlucken angesichts dieses Antriebs; sie drangsaliert und moralisiert, erzieht und spricht mit den Mädchen gemäß einer strengen, dabei im Prinzip wohlwollenden Oberin, erinnert sich an ihre eigene Kindheit und Jugend und versucht, die Mädchen auf den rechten Weg zu bringen oder sie dort zu halten. Mädchen, die menstruieren, werden aufgefordert, ein das heilige Buch vor Verunreinigung schützendes weißes Tuch ordentlich um den Einband, Hände und Arme zu wickeln, damit der Koran nicht von ihren verunreinigten Fingern und Handflächen berührt wird. Immer wieder werden Mädchen mit auffallend abweichendem Verhalten zu Einzelgesprächen vor ihren Schreibtisch geladen. Bei ihren persönlichen Spaziergängen außerhalb des Gebäudes und besonders beim Treppensteigen blitzen jedoch die hohen Absätze ihrer eleganten schwarzen Riemchenpumps unter dem schwarzen Umhang hervor, von ihren Augen ganz zu schweigen. Man erzählt sich, dass sie ab und an von einem Dieb heimgesucht wurde, der in ihr Haus eingebrochen haben soll. Doch die Mädchen kichern darüber, wohl wissend, dass es sich bei dem angeblichen Dieb wohl eher um einen Liebhaber handelt: zumindest erzählt man sich dies unter der Hand überall heimlich. Dies wird in dem Moment ausgespielt, als sie die Mädchen im Unterricht zu sehr drangsaliert und es der schönen gestrengen Direktorin kurz die Sprache verschlägt. Der Koranrezitationswettbewerb rückt immer näher, die Mädchen lernen und strengen sich an, was das Zeug hält. Am Tag des Wettbewerbs scheidet eine nach der anderen aus, der dritte und der zweite Preis werden verteilt, und Wadjda ist tatsächlich die Gewinnerin des Hauptpreises von 1.000 Riyal. Nach den überschwänglichen Glückwünschen fragt man sie noch auf der Bühne, was sie denn nun mit dem vielen Geld machen wolle. Wadjda antwortet wahrheitsgemäß und sehnsüchtig, dass sie sich ein Fahrrad dafür kaufen wolle. Die Direktorin ist entsetzt, erinnert sie daran, dass dies für Mädchen und Frauen verboten und dass es doch viel besser sei, dieses Geld für einen guten Zweck zu spenden, was sie von ihr auch erwartet hätte. So wird über Wadjda's Kopf hinweg entschieden, dass dieses von ihr gewonnene Preisgeld, für das sie wochen- und monatelang hart gelernt und gearbeitet hatte, zugunsten einer religiösen palästinensischen Hilfsorganisation gespendet wird. Das Fahrrad am Horizont, eben noch greifbar nah, rückt in weite Ferne. Die maßlose Enttäuschung des Mädchens über diese Entscheidung äußerst sich in unendlich traurigen Blicken, stillen Tränen und trotzigem inneren Rückzug.

Die rigide Geschlechtertrennung des Landes wird ständig thematisiert, Frauen und Männer sind überall strikt getrennt, nicht einmal Blicken soll und darf man sich aussetzen. Umso neugieriger werden einige, wenn sich Möglichkeiten ergeben, und seien sie noch so minimal. Die moralischen Erziehungsappelle lauten demgemäß, dass die Mädchen sich bei der Rezitation so eng aneinander stellen sollen, dass weder der Teufel noch ein Mann zwischen ihnen Platz haben kann. Zumindest der Teufel scheint potentiell ständig anwesend zu sein, wenn auch unsichtbar, und vor ihm wird man dauernd gewarnt. Ihre Mutter ermahnt Wadjda, dass Fahrradfahren für ein Mädchen nicht erlaubt oder gut sei, man könne unfruchtbar davon werden, es sei eine Belastung für den Körper der Frau, sie selbst sei bei ihrer Geburt beinahe gestorben. Ihr Mann hat zunehmend schlechte Laune, weil die Gattin - seine "Sonne", wie er sie nennt - ihm noch keinen Stammhalter geboren hat. Deshalb gibt es zunehmend Druck von der Schwiegermutter im Hintergrund. Die Ehefrau fragt zurück, weshalb er nach anderen Sternen greife, wenn sie doch seine Sonne sei, als er immer öfter spät nach Hause kommt und sich zunehmend anderweitig gesellschaftlich vergnügt und engagiert. Eines Tages ist es soweit: Vom Dach des Hauses sieht Wadjda abends die Festbeleuchtung einer Hochzeitsfeier mit der dazugehörigen Festmusik, den Gästen und Allem, was dazugehört. Sie freut sich, dass ihr Onkel nun wohl heiraten würde, doch ihre Mutter klärt sie auf: Es ist nicht der Onkel, der heiratet. Dass der Vater das eigene Haus verlassen und seine Erstfrau verstoßen hat, wird lediglich angedeutet in der Form, dass seine frisch gewaschene Gallabiya - vielleicht das eigene Hochzeitshemd seiner ersten Heirat? - in der offenen Tür zum Schlafzimmer der Eltern auf dem gemachten und abgedeckten Bett des Paares verlassen liegt. Wadjda begreift stumm die neue Entwicklung, die Entscheidung des Vaters, eine weitere neue Frau zu nehmen und sie mit der ersten, ihrer Mutter, zurück zu lassen. Jetzt haben Beide nur noch sich. Als Überraschung und kleinen Lichtblick schenkt die Mutter der Tochter von ihren letzten gesamten, vermutlich heimlichen, Ersparnissen das ersehnte grüne Fahrrad, mit dem sie im Innenhof des Hauses umzugehen lernt, sodass sie bald Fahrrad fahren kann. Auf der Straße neckt sie der befreundete Nachbarsjunge, dass er sie heiraten wolle, sobald Beide alt und groß genug seien.

Abgesehen davon, dass dieser Film eine kleine historische Sensation ist, war das deutsche Produzententeam teilweise auch an der Produktion von Hany Abu Asad's "Paradise Now" (Roman Paul und weitere) beteiligt. Es wurde berichtet, dass man vorab Kontakte mit den Ministerien in Saudi-Arabien geknüpft hatte, um die Einreise- und Dreherlaubnis zu erhalten, für die zunächst geklärt werden musste, ob ein solches Projekt überhaupt möglich ist. Auf die Frage, ob es erlaubt sei, einen Kinofilm zu drehen, lautete die Antwort: Es sei weder erlaubt noch verboten. Man konnte also beginnen, rein theoretisch, in dieser Grauzone des islamischen Rechts vor Ort, unter Einhaltung gewisser Regeln. Allerdings gibt es in Saudi-Arabien keine Schauspieler. So fand man beispielsweise die Hauptdarstellerin der kleinen Wadjda, (großartiges Naturtalent: Waad Mohammed) erst eine Woche vor Drehbeginn. Die Regisseurin, geboren 1974 in Saudi-Arabien, verheiratet mit einem amerikanischen Diplomaten, Mutter zweier Kinder und heute in Dubai lebend, drehte sämtliche Szenen zwischen den religionsrechtlich vorgeschriebenen fünfmaligen täglichen Gebetszeiten aus einem Lieferwagen heraus. Unerwartet auch der verspielte Humor des frechen kleinen Mädchens, die von den Männern auf Baustellen und anderswo durchaus bereits als verführungsfähige Frau wahrgenommen und behandelt wird. Ihre Keckheit wirkt natürlich, spontan, unverkrampft, in keiner Weise aufgesetzt; sie scheint ganz wie von selbst zu kommen. Schon die Frage, ob und welche Frauen man ohne Verhüllung im Haus filmen dürfe, war zunächst ein Problem: al-Mansour wollte möglichst wirklichkeitsgetreu drehen, folglich mussten die Frauen innerhalb des Hauses unverhüllt sein - aber welche saudische Frau wäre dazu bereit gewesen, so vor eine Kamera zu treten? All diese Schwierigkeiten hat man in dieser Form in vermutlich keinem anderen Land der Welt. Trotzdem ist es al-Mansour gelungen, einen wunderbaren, einfühlsamen Streifen zu drehen, der Einblicke in eine bis heute weitgehend verschlossene, unbekannte Welt gibt, und dies mit zärtlichem Humor, immer wieder sehr gelungener Situationskomik, sachter Ironie und der Darstellung einer uns weitgehend fremden gelebten Religiosität, wie man sie nicht oft erlebt, sieht, hört oder thematisiert findet. Haifaa al-Mansour ist es gelungen, einen kulturellen Beitrag in Form eines Films zu produzieren, der durch die starke Rezeption (er wurde bisher über 200.000 Mal in offiziellen Kinos gezeigt, auch in Dubai und den USA; in Saudi-Arabien lief er bereits im Fernsehen, hieß es) einen anderen Blick auf dieses weithin unbekannte Land frei gibt, aus dem man so wenig weiß und so selten etwas unzensiert erfährt. Ihr Film scheint damit auch ein Baustein zu einer eigenen kulturellen Identität dieses arabischen Landes zu werden, das dies vielleicht nötiger hat, als es den Menschen - besonders seinen Bewohnern - bisher bewusst ist. Immerhin: Er soll bewirkt haben, dass ein schon länger erlassenes Dekret zum Verbot eines der wenigen saudischen Freizeitvergnügungen - einer Art vierrädrigem Wüstenfahrrad für Familien am Wochenende - wieder zurückgenommen wurde, sodass dieses familiäre Gruppenamüsement am Rande der Wüste wieder erlaubt ist. Fahrradfahren dürfen Mädchen und Frauen in der Öffentlichkeit bisher aber nach wie vor nicht. Das bleibt vorerst fiktive Utopie.

Der Film wurde am 20. November 2013 als Eröffnungsfilm des Frauenfilmfestes in Tübingen gezeigt.

Anmerkung:
Die Umschrift-Schreibweise der Namen wurde aus dem Begleitheft zum Film entnommen.