Rezension über:

Thomas Forstner: Priester in Zeiten des Umbruchs. Identität und Lebenswelt des katholischen Pfarrklerus in Oberbayern 1918 bis 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 603 S., 14 Abb., 10 Tabellen, 1 Karte, ISBN 978-3-525-55040-3, EUR 89,99
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Rezension von:
Katharina Grannemann
Aachen
Empfohlene Zitierweise:
Katharina Grannemann: Rezension von: Thomas Forstner: Priester in Zeiten des Umbruchs. Identität und Lebenswelt des katholischen Pfarrklerus in Oberbayern 1918 bis 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/06/24518.html


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Thomas Forstner: Priester in Zeiten des Umbruchs

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Studien zur katholischen Kirche gibt es viele; vor allem Untersuchungen zu den Gläubigen haben seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort katholisches Milieu stark zugenommen. Seltener jedoch werden die Geistlichen in den Blick genommen. Thomas Forstner analysiert nun auf breiter Quellenbasis die Lebensverhältnisse des katholischen Klerus in Bayern und bietet damit Einblick in ein bislang wenig erschlossenes Forschungsfeld. Der Autor konzentriert sich in seiner 2011 an der Ludwig-Maximillians-Universität angenommenen Dissertation auf das Erzbistum München und Freising in den Jahren von 1918 bis 1945.

Methodisch greift Forstner mit einem kultur- und sozialgeschichtlichen Ansatz auf das Thema zu und distanziert sich gleichzeitig von einer pastoralgeschichtlichen Perspektive. Der Fokus liegt auf der Alltags- und Erfahrungswelt des Klerus und nicht auf theologischen Diskursen. Der Verfasser möchte die Entwicklung des oberbayerischen Klerus zwischen den Weltkriegen sowie seine Reaktion auf das totalitäre System des Nationalsozialismus darstellen und damit "Bausteine zu einer weit übergreifenden Kultur-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte katholischer Kleriker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts" (18) liefern. Forstner versteht den Klerus als "Sonder- bzw. Teilgesellschaft" (21). Den Milieubegriff lehnt er für seine Arbeit ab, weil in Oberbayern keine abgeschottete katholische Subgesellschaft existiert habe, da der überwiegende Teil der Bevölkerung katholisch gewesen sei. Diese Begriffsbestimmung entspricht dem Konzept, Milieubildung stets über Abgrenzung zu anderen Milieus bzw. Gruppen zu definieren, während bei überwiegend katholischen Regionen wie Bayern, in denen sich eine starke Alltagsfrömmigkeit erhalten habe, von Lebenswelt gesprochen wird. [1] Die Umschreibung des Klerus als "Teil- bzw. Sondergesellschaft" erscheint für Forstner auch deshalb gewinnbringender als der Milieuansatz, da sich die Geistlichkeit zu stark von den Laien abhebe und daher nicht mit dem gleichen Instrumentarium zu erfassen sei.

Forstner beginnt mit einer näheren Betrachtung der Strukturen im Bistum, wobei Kardinal Michael von Faulhaber eine große Rolle spielt. Sicherlich ist die Geschichte des Bistums in dieser Zeit untrennbar mit Faulhaber verknüpft, manche Details erscheinen an dieser Stelle aber nicht notwendig für die Argumentation. Forstner greift in diesem Abschnitt seine methodischen Überlegungen zum Milieubegriff noch einmal auf und erläutert diese treffend. Hier skizziert er auch die Spannung zwischen der katholischen Kirche und den politischen, gesellschaftlichen und religiösen Transformationsprozessen der Moderne in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Im zweiten Kapitel setzt sich der Autor ausführlich mit der Ausbildung der Geistlichen auseinander. Dabei werden alle Ausbildungsschritte von der Berufung über die Seminarerziehung und das Studium bis hin zur Priesterweihe in den Blick genommen. Dieses Kapitel nimmt den größten Teil der Gesamtuntersuchung ein. Die präzisen und spannenden Analysen, beispielsweise zum Berufungsdiskurs, hätten an manchen Stellen etwas gerafft werden können.

Die Befunde werden im dritten Kapitel zu Standesideal und Auftreten des Klerus weiter vertieft. Forstner erläutert das "Identitätskonzept" des Klerus, den "habitus clericalis" (51), und verknüpft ihn mit der Konfrontation der Kirche und der Geistlichkeit durch die Moderne. Priester, so der Verfasser, stellten ursprünglich etwas Fremdes dar; dieses Anders-Sein wurde jedoch im Untersuchungszeitraum in Frage gestellt. Der Verfasser sieht die Weltdistanz des Klerus als gewollt an und als Teil des priesterlichen Ideals. Die bewusste Abgrenzung sollte identitätsstiftend wirken, sorgte aber stattdessen für eine zunehmende "Schere zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung", da die bürgerliche Gesellschaft das starre Bild des Geistlichen zunehmend "entmystifizierte" (252).

Im vierten Kapitel diskutiert der Autor verschiedene Facetten des priesterlichen Lebens. Hier kommen die finanziellen Rahmenbedingungen ebenso zur Sprache wie die Alltags- und Freizeitgestaltung der Geistlichen. Besonders interessant ist hier die Frage nach Hobbys und Leidenschaften der Geistlichen. Urlaubsplanung und sportliche Aktivitäten unterstreichen deutlich das Spannungsfeld zwischen bewusst gelebtem Habitus und neuer bürgerlicher Lebenswelt.

Hier setzt das nächste Kapitel an, das dem "abweichenden Verhalten" (363) gewidmet ist. Wann und unter welchen Bedingungen kam es zu Ausbrüchen aus dem gelebten Priesterideal und mit welchen Mechanismen sollte die Norm kontrolliert und gewahrt werden? Forstner zeigt hier sowohl Maßnahmen der Prävention als auch Instrumente der Strafe auf. Als Beispiele für abweichendes Verhalten untersucht der Autor Homosexualität, Verstöße gegen den Zölibat und Eigentumsdelikte; zudem geht er der Geschichte eines Priesters nach, der aufgrund einer psychischen Störung sein Amt nicht weiter ausüben konnte und als Anstaltspatient durch die nationalsozialistischen Behörden zwangssterilisiert wurde.

Die letzten drei Kapitel widmen sich Ausnahmesituationen: Geistliche im Nationalsozialismus und in den beiden Weltkriegen. Forstner untersucht Motive für eine Annäherung an den Nationalsozialismus und stellt fest, dass "braune Priester" (419) im Erzbistum München und Freising überproportional oft in Erscheinung traten. Dies führt er auf die Konzentration der frühen NSDAP auf Bayern mit München als Zentrum der Bewegung zurück. Laut Forstner brachen Priester oft völlig mit ihrem vorher gelebten Standesideal, indem sie sich nicht nur politisch für die NSDAP engagierten, sondern beispielsweise auch Zivilehen eingingen.

Ein weiteres Kapitel betrifft die Auseinandersetzung des Klerus mit dem NS-Regime. Forstner diskutiert den Widerstandsbegriff sehr kritisch und unterscheidet dabei zwischen "Abstand, Selbstbehauptung und Widerstand" (506). Statt sich wie viele Studien in Betrachtungen von Einzelschicksalen zu verlieren, setzt sich der Verfasser differenziert mit bisherigen Forschungsergebnissen auseinander. Dagegen erscheint das letzte Kapitel über Priester in den beiden Weltkriegen etwas knapp; zudem reißt es die thematisch eng zusammenhängenden Kapitel zu Geistlichen während des Nationalsozialismus auseinander. Forstner erkennt die Probleme, die der Krieg für den Klerus bereithielt: die Militärseelsorge und das Spannungsfeld zwischen Patriotismus und Friedenswunsch.

Forstner hat eine sowohl für den Kirchen- als auch Sozialhistoriker ertragreiche Studie vorgelegt, die viele weiterführende Einsichten zur Lebenswelt des katholischen Klerus vermittelt und sicherlich Impulse für weitere Untersuchungen geben wird. Der Verfasser hat umfangreiches Quellenmaterial zusammengetragen, kontextualisiert und mit treffenden Analysen in die Forschung eingebunden. Die bei Regional- und Lokalstudien unbedingt wünschenswerte Liebe zum Detail nimmt in den ersten Kapiteln manchmal Überhand, jedoch bildet gerade die detaillierte Auswertung der Quellen die Stärke dieser Arbeit.


Anmerkung:

[1] Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte (Münster): Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert. Ein Erklärungsmodell zur regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland, in: Konfession, Milieu, Moderne. Konzeptionelle Positionen und Kontroversen zur Geschichte von Katholizismus und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Johannes Horstmann / Antonius Liedhegener, Schwerte 2001, 97-143, hier 105 ff.

Katharina Grannemann