Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert, 2. Auflage, Berlin: Rowohlt 2014, 351 S., ISBN 978-3-87134-645-3, EUR 19,95
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Willy Brandts 100. Geburtstag im vergangenen Dezember war Anlass für zahlreiche Neuerscheinungen. Mehrere dieser Publikationen nahmen das ganze Leben des Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers in den Blick. Dazu gehört auch das Buch des früheren Spiegel-Mitarbeiters Hans-Joachim Noack. Aus der Feder von Journalisten stammen wichtige Beiträge zu Brandts Vita, so von Gunter Hofmann und von Peter Merseburger. Sie haben gezeigt, dass sich zeithistorisch ausgerichtete Werke von Journalisten auch hinsichtlich der Informationsdichte und der analytischen Qualitäten nicht hinter denen von Historikern verstecken müssen.
Hans-Joachim Noacks Buch ist eine weitere für einen breiteren Leserkreis geschriebene Darstellung des Lebens von Willy Brandt. Das Buch beginnt mit der Schilderung einer Begebenheit aus dem Jahr 1970: Bei einer kurzen Rast während einer Autofahrt traf der Kanzler auf ihm wohl gesinnte Forstarbeiter. Obwohl im Landtagswahlkampf befindlich, hatte Brandt keine Lust, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Im Bericht für die Frankfurter Rundschau schönte der mitreisende Noack nach eigenem Bekunden die Szene kräftig. Er greift sie nun wieder auf, um die damalige Willy-Begeisterung zu illustrieren, die auch vor Journalisten nicht Halt machte. Es habe weitere "ähnlich polierte Passagen" gegeben: "[...] mit welcher Fürsorglichkeit unsereins damals in die Tasten griff, um den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik in möglichst günstigem Licht erscheinen zu lassen, hatte ich weitgehend verdrängt" (8).
Nach einem zehnseitigen Auftakt mit Reminiszenzen an Begegnungen zwischen 1969 und 1992 handelt Noack Willy Brandts Leben chronologisch ab. Den jungen Herbert Frahm porträtiert er als "von Geburt an chronisch einsame(n) Kerl" (Überschrift des ersten Kapitels). "Still" (19) und "sensibel", "sich oft verkriechend" sei Herbert gewesen, die Mutter mit ihm "überfordert" (21). Mit der Einschätzung, sie sei gegenüber den politischen Aktivitäten des Sohnes "ahnungslos" (32) gewesen, steht Noack unter den Brandt-Biographen alleine. Ähnlich überraschend und wenig überzeugend ist Noacks Bericht über Brandts "in Lübeck häufig zur Schau gestellte Weltflucht" (58). Dies gilt schließlich auch für den Passus, Brandt "träumt [...] sich mit jugendlichem Elan in eine Art Vermittlerrolle hinein. Er will die zwischen der Arbeiterbewegung und den bürgerlichen Schichten grassierenden Berührungsängste abbauen." (29) Tatsächlich zeichnete sich der junge Brandt als linker Sozialdemokrat aus, dem solche Gedanken sehr fern waren.
Im Exil wurde Willy Brandt dem Autor zufolge zum "umtriebigen" Politiker (59), später gar zum "Profi der Untergrundarbeit" (88). Privat sei er kein "Asket und Kostverächter" gewesen (62). Brandt zeichnete nun ein internationalistisches Denken aus; zugleich habe er die These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes abgelehnt. In Schweden habe er die ihn seither kennzeichnende Mischung aus Pragmatismus und politischen Visionen gefunden. Über seine Exilzeit habe er nach der Rückkehr nach Deutschland wenig geredet und damit "ein bisschen" (109) den späteren Verleumdungen Vorschub geleistet. Noack konzediert Brandt "patriotische Gesinnung" (110) und einen nach vorne gerichteten Blick, aber über die künftige Politik Moskaus habe er sich bis 1948 getäuscht und auf eine innere Liberalisierung der Sowjetunion gehofft. Erst nach dem kommunistischen Putsch in Prag habe Brandt die bisherige Programmatik aufgegeben.
Widersprüchlich sind Noacks Ausführungen zur Aufnahme Brandts in der SPD nach der Rückkehr. Einerseits ist die Rede davon, Brandt habe sich "in der Gunst des Exilvorsitzenden Erich Ollenhauer [gewusst], der mit stiller Zähigkeit seine Rückkehr" betrieb (103). Andererseits (und näher an der Wahrheit) berichtet er über "das offenkundige Misstrauen, mit dem ihm des Emigrantengezänks wegen vor allem der stellvertretende Parteichef Erich Ollenhauer noch mehrere Jahre lang begegnet" (123). So oder so: In den 1950er Jahren machte Brandt seinen Weg in der SPD, erst in Berlin, dann auch in der Bundespartei, weil er zur entideologisierten Godesberger SPD gepasst habe. Nun sei neben dem "eher zartbesaiteten" auch der "robuste Brandt" (181) zum Vorschein gekommen. Nach dem Bau der Mauer habe bei Brandt nur kurzzeitig die Empörung obsiegt. Schnell sei ihm klar geworden, dass eine neue Deutschlandpolitik vonnöten sei. Die Ostpolitik wurde "das neben der Westbindung bedeutsamste strategische Projekt der Bundesrepublik" (250).
In der Wahlnacht des September 1969 habe sich Brandt entschlossen gegen Herbert Wehner durchgesetzt. Diese Entschlossenheit habe ihn in außergewöhnlichen Situationen ausgezeichnet. Die Regierungserklärung vom Oktober 1969 nennt Noack einen "Modernisierungsrausch". Die neue Regierung legte ein atemberaubendes Tempo vor. Brandt habe sich auf die Deutschland- und Außenpolitik konzentriert. An der Innenpolitik sei er wenig interessiert gewesen - eine Einschätzung, gegen die Brandt immer wieder protestierte. Den "Radikalenerlass" von 1972 nennt Noack "zweifelhaft" (237).
Noacks Darstellung der politischen Aktivitäten Willy Brandts nach dem Rücktritt als Bundeskanzler konzentriert sich weitgehend auf die Arbeit an der Spitze der SPD als deren Vorsitzender bis 1987. Brandts globales Engagement wird auf ganzen zweieinhalb Seiten stiefmütterlich behandelt - dies gilt leider auch für andere Publikationen aus dem Jubiläumsjahr. Ausführlicher geht er auf Brandts Rolle 1989/90 ein. Das Buch schließt mit einem Kapitel über "Mensch und Mythos", in dem es weniger um dieses Thema geht als um die Konstanten der politischen Nachkriegsvita Brandts: die Einheit und die Identität der Partei zu wahren, Ideologien abzulehnen und in der Politik mit kleinen Schritten voranzugehen. Nach dem Abgang von Helmut Schmidt und Wehner von der politischen Bühne habe Brandt "die SPD wie nie zuvor nach seinem Bild formen" können. (333) Noack beendet das Buch mit der Feststellung, die Deutschen hielten mittlerweile Brandt zusammen mit Adenauer "für den wirkungsmächtigsten ihrer bisherigen Kanzler" (339).
Wie fast alle Neuerscheinungen des Jubiläumsjahres ist auch dieses Buch mit erkennbarer Sympathie für Brandt geschrieben worden. Aber weder erlaubt es uns einen neuen oder vertieften Blick in das Leben dieses Jahrhundertpolitikers, noch reicht es an die Informationsdichte (und Zuverlässigkeit) älterer Werke über Brandt heran. Geschrieben ist es in routinierter Form, aber nicht immer fakten- und urteilssicher; zu den krassen Fehlern gehört, Ferdinand Lassalle (gestorben 1864) habe 1875 August Bebel die Hand gereicht (16). Für die Zeit vor Brandts Auftritt auf der Bonner Bühne bewegt sich Noack erkennbar auf ihm unbekanntem Terrain. Aber auch die "nächste Nähe" (hintere Umschlagseite), aus der Noack über lange Jahre hinweg Brandt beobachtet hat, wird leider nur selten erkennbar.
Bernd Rother