Jean-Sébastien Sauvé: Notre-Dame de Strasbourg. Les façades gothiques (= Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Bd. 10), Affalterbach: Didymos-Verlag 2012, 368 S., 185 s/w-Abb.; 24 Tafeln mit 32 Farbabb., ISBN 978-3-939020-10-3, EUR 69,00
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Eine Monografie der Westfassade des Straßburger Münsters, die dieses Meisterwerk vom Sockel des Erdgeschosses bis zur Turmspitze trotz aller Planwechsel und Stilwandel als in sich geschlossene Einheit behandelt, hat bisher gefehlt. Mit der vorliegenden Schrift, einer an der Karlsruher Fakultät für Architektur eingereichten Dissertation, ist dieses Desiderat eingelöst. Für die Belange des Kulturaustauschs hat der deutsche Verlag ein erfreuliches Zeichen gesetzt, indem er die Studie des französisch-kanadischen Verfassers in dessen Muttersprache publizierte.
Es handelt sich um ein ebenso intelligentes wie provozierendes Buch, stellt es doch fast alle von der bisherigen Forschung als sicher geltenden chronologischen Eckwerte und Zuschreibungen von Bauteilen an einzelne Architekten in Frage. Sauvé behandelt kapitelweise die großen Baueinheiten in chronologischer Reihenfolge. Zuerst beschreibt er den Bauteil eingehend, anschließend wird die Quellenlage und der gegenwärtige Forschungsstand erörtert, wobei die Zusammenstellung der häufig divergierenden Meinungen der bisherigen Autoren sich im Hinblick auf eine noch zu schreibende Forschungsgeschichte des Straßburger Münsters als nützlich erweisen wird. Die zahlreichen, in der Straßburger Bauhütte entstandenen Risse, ein europaweit einmaliger Fundus zeichnerischer Vorlagen für die Planungsgeschichte eines mittelalterlichen Großbaus, behandelt Sauvé als Primärquellen. Sie stellen für ihn reale Projektgrundlagen dar und keine "Schaubilder", welche die Auftraggeber beeindrucken oder angehende Architekten in die Kunst der Entwurfszeichnung hätten einführen sollen. So glaubt Sauvé in der Lage zu sein, das gebaute Resultat fast aller Entstehungsphasen der Straßburger Westfassade auf planerische Grundlagen in Form konkret vorhandener Zeichnungen zurückzuführen. In welchem Maße aber eine Zeichnung etwas längst Bestehendes wiedergeben oder variieren kann, erörtert er ebenso wenig wie die Frage nach der Zufälligkeit der Überlieferung von Plandokumenten.
Es seien hier nur die wichtigsten Resultate der Studie referiert und kritisch hinterfragt. Von den bisherigen als "sicher" geltenden Gegebenheiten bleibt bei Sauvé eigentlich nur das gut überlieferte Datum 1277 für den Beginn der Arbeiten an der Westfassade übrig. Laut Sauvé hat man aber schon etwas früher anstelle des romanischen Westbaus eine erste gotische Fassade zu errichten begonnen und bis zu einer gewissen, nicht weiter definierten Höhe aufgeführt. Nun ist seit langem nachgewiesen, dass die Erbauer der Westhälfte des gotischen Langhauses mit der Beibehaltung der romanischen Westanlage gerechnet haben, nie aber hat man behauptet, an deren Platz sei, wie jetzt Sauvé postuliert, bereits ab ca. 1260 eine erste gotische Fassade nach den Vorgaben des Risses A entstanden. Zwar wurden die Westfassaden gotischer Kathedralen in der Regel bis zur Gewölbehöhe im Mittelschiff vor der Vollendung des Langhauses erbaut, um dieses von vornherein nach Westen hin statisch abzusichern. Aber gerade in Straßburg war das nicht nötig, weil die stehen gebliebene romanische Fassade ein Widerlager bot. Die Argumente für seine These glaubt Sauvé in der Beschaffenheit des Mauerverbands an der Verbindungsstelle zwischen dem westlichsten Langhausjoch und der Fassade zu finden, die er als erster eingehend untersucht hat. Hier finden sich tatsächlich sowohl innen wie außen ab- beziehungsweise umgearbeitete Elemente einer vorherigen Anlage, die eher auf eine Entstehung zur Zeit der Gotik als der Romanik hinweisen. Aber reicht das aus, um die These zu rechtfertigen? Gegen sie spricht der Sinn der mittelalterlichen Hütten für Ökonomie. Eine soeben begonnene Fassade sofort wieder abzureißen, nur weil sie bald einmal ästhetisch veraltet gewesen sein soll (115), ist ein Szenario, das man sich kaum vorstellen kann. Wie wenig der Riss A in den 1270er-Jahren obsolet war zeigt der Kölner Domchor, dessen damals geplanter Obergaden das Turmfenster dieses Straßburger Risses paraphrasiert. Es wäre zu überlegen, ob der Riss A nicht das Projekt einer Modernisierung der romanischen Westfassade darstellt. Man hätte diese mit gotischen Formen umhüllen können, so wie dies im 15. Jahrhundert an der Kathedrale von Tours geschah. Deren Westfassade blieb als romanischer Bau vollumfänglich erhalten, aber außen wie innen erhielt sie ein neues spätgotisches Kleid. So könnten in Straßburg die Spuren einer älteren gotischen Fassade am Übergang zwischen Langhaus und Westbau Reste einer bereits ausgeführten Modernisierung der romanischen Westanlage sein. Das hieße dann aber, dass im Kern dieser Teile noch romanisches Mauerwerk steckt. Solange in Straßburg eine bauarchäologische Untersuchung mit steingerechtem Aufmaß ausbleibt, lässt sich nichts Genaueres darüber aussagen.
Sauvé ist ein Anhänger des Kults um Erwin von Steinbach. Das sei ihm unbenommen, denn es ist nicht ganz auszuschließen, dass der erst um 1300 quellenmäßig gesicherte Meister Erwin bereits 1277 die Arbeiten der Westfassade geleitet hat. Sauvé schreibt ihm nicht nur den Riss B (die Grundlage für den Aufbau des Erdgeschosses der heutigen Westfront), sondern auch den Riss C zu, der nur in einer späten Kopie erhalten ist. Dieser weist bereits die heutigen Formen des Rosengeschosses auf, die sich von den Gegebenheiten des Risses B entfernen. Somit hätte Erwin sein eigenes Projekt grundlegend abgeändert. Stringente Beweise dafür gibt es nicht. Offenbar tendierte aber die Bauhütte nach einer stetigen Steigerung der Fassadenhöhe, was sich laut Sauvé unter Meister Johannes, dem Nachfolger Erwins, in der Aufstockung des Mittelteils mit der Apostelreihe über der Rose manifestiert. Ebenso wenig wie die bisherige Forschung vermag Sauvé hinter dem Glockengeschoß, mit dem im mittleren Teil über der Rose die Freigeschoße der Türme nachträglich zu einer gewaltigen Wand verbunden wurden, einen gestalterischen Sinn zu erkennen. Warum kommt er nicht auf die naheliegende Vermutung, die Plattform über dieser Wand sei von Anfang an nicht als horizontaler Abschluss, sondern als Standfläche für eine gewaltige Überhöhung der Fassade in Form zweier riesiger Oktogone mit Spitzhelmen gedacht worden, von denen das nördliche denn auch gebaut wurde?
Mit der von ihm erarbeiteten Entstehungsgeschichte und Datierung des obersten Teils der Straßburger Westfassade weicht Sauvé am stärksten von den etablierten "Lehrmeinungen" ab. Bisher hat die Forschung stets den frei aufragenden Turm zwei Werkmeistern zugeschrieben, nämlich das Oktogon Ulrich von Ensingen (im Amt 1399-1419) und den Helm Johannes Hültz aus Köln, der ihn 1439 vollendet haben soll. Mit Recht bestreitet Sauvé die Gültigkeit des zuletzt genannten Datums, denn es handelt sich um eine Nachricht über eine Eisenlieferung, mit der das "Kreuz auf dem Turm" befestigt werden sollte. Nun stand aber auf der Spitze des Helms kein Kreuz, sondern eine Marienstatue, sodass sich die Quelle wohl auf den Vierungsturm bezieht, der im Spätmittelalter nachgewiesenermaßen von einem Kreuz bekrönt war. Damit wird die ganze bisher vorgeschlagene Chronologie des oberen Turmteils hinfällig. Aufgrund einer mit dem Studium von Rissen und Quellenberichten kombinierten Bauanalyse kommt Sauvé zum Schluss, dass Ensingen nur der untere Teil des Achtecks (mit anfänglich nur einer einzigen Treppenspirale auf der Nordwestseite) zugeschrieben werden könne, während Hültz ab 1419 (also nach dem Tod Ulrichs von Ensingen) lediglich das obere, kleinere Achteckgeschoss hinzugefügt und alle vier Treppentürme vollendet habe. Hültzens Entwurf für den Helm sei im Riss 8 (einer Kopie des verlorenen Originals) erhalten geblieben. Er enthält in der Tat viele Elemente, die direkt auf die Kölner Domtürme zurückgehen. Statt Hültzens Helmprojekts habe man erst Jahrzehnte später den heutigen, von einer ganz anderen, viel komplexeren Geometrie geprägten Helm nach den Plänen von Jost Dotzinger (Dombaumeister ab 1452) errichtet. Vollendet habe ihn einer von Dotzingers Nachfolgern irgendwann im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts, mit Sicherheit aber vor 1488, als Dombaumeister Hammer damit beauftragt wurde, aus Sicherheitsgründen die Marienstatue auf der Turmspitze zu entfernen. Dieses von Sauvé ausgearbeitete Szenario der Baugeschichte des Straßburger Münsterturms fußt auf manchen guten Argumenten, vieles daran ist aber auch höchst fragwürdig. Das vorgeschlagene späte Vollendungsdatum des Turms bestätigt indessen die von Sauvé nicht berücksichtigte Nachricht des Humanisten Hieronymus Gebwiller (1473-1545), der schreibt, der Helm sei 1484 zu Ende gebaut worden (Robert Will: La plus ancienne description monumentale de la cathédrale de Strasbourg, tirée de la chronique de l'humaniste Jérôme Gebwiller, rédigée en 1521, in: Bulletin de la Société de la Cathédrale de Strasbourg 20 (1992), 61-81, hier 72 u. 76, n. 42; freundlicher Hinweis von Jean-Paul Lingelser, Straßburg).
Sauvés Buch wird nicht nur alle künftigen Arbeiten über die Straßburger Fassade dazu zwingen, sich mit den darin entwickelten Denkmodellen und Hypothesen ernsthaft auseinanderzusetzen, sondern es wird zweifellos auch zu weiteren Forschungen anregen. Etwas Besseres kann man von einer Dissertation trotz einiger augenfälliger Schwächen eigentlich nicht sagen. So wird das flüssig geschriebene, sorgfältig gestaltete und hervorragend illustrierte Buch ohne Übertreibung seinen Platz als Meilenstein in der Historiografie des Straßburger Münsters längerfristig behaupten können.
Peter Kurmann