Annette Bonse: Pakt mit Gaddafi. Die europäische Kooperation mit Libyen in Migrationsfragen vor Ausbruch der arabischen Revolution (= Bonner Studien zum globalen Wandel; Bd. 15), Marburg: Tectum 2011, 132 S., ISBN 978-3-8288-2792-9, EUR 24,90
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"Diese Brüder und Schwestern von uns suchten, schwierigen Situationen zu entkommen, um ein wenig Sicherheit und Frieden zu finden; sie suchten einen besseren Ort für sich und ihre Familien, doch sie fanden den Tod. Die dies suchen, wie oft finden sie kein Verständnis, finden sie keine Aufnahme und Solidarität!" [1] Das waren die Worte von Papst Franziskus in einer Predigt auf dem Sportplatz von Salina am 8. Juli 2013 auf der italienischen Insel Lampedusa. Bei der Messe für die unzähligen Bootsflüchtlinge, die bei der Überfahrt von Afrika im Mittelmeer ums Leben gekommen waren, standen naturgemäß humanitäre Erwägungen im Vordergrund. Doch der Umgang mit Flüchtlingen orientiert sich nicht nur daran, sondern auch an Fragen der inneren Sicherheit, der Leistungsfähigkeit von Wohlfahrtsstaaten und möglichen sozialen Konflikten. In diesem Spannungsverhältnis den richtigen Weg zu finden, ist ohne Zweifel eine enorm schwierige Aufgabe für die Europäische Union (EU).
In ihrer erfreulich kompakten, klar strukturierten und gut lesbaren Studie beschäftigt sich die Politikwissenschaftlerin Annette Bonse mit einem wichtigen Teil der Flüchtlingspolitik, nämlich der Kooperation der EU mit Libyen zur Eindämmung der Flüchtlingsströme bis zum Beginn des "arabischen Frühlings". Dabei handelte es sich zunächst vor allem um eine bilaterale italienisch-libysche Zusammenarbeit, denn die EU erhielt erst Ende der 1990er Jahre eine eigenständige Kompetenz gegenüber Drittstaaten in diesem Politikbereich. Die Kooperation mit Libyen erscheint einerseits folgerichtig, denn der arabische Staat war und ist auch heute das wichtigste Transitland für Migranten auf ihrem Weg von Subsahara-Afrika nach Europa. Andererseits weckt sie starke Zweifel, denn Libyen unter seinem langjährigen Herrscher Muammar al-Gaddafi (1969 - 2011) war geprägt durch schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, eine umfassende Unterstützung des internationalen Terrorismus und völkerrechtswidriges Vorgehen in Nordafrika.
Auf die Motive für diese Kooperation auf der einen wie auf der anderen Seite geht die Verfasserin leider nur sporadisch ein. (34f., 56f., 65) Hier wäre eine systematischere, zusammenfassende Analyse angebracht gewesen. Nach den Sanktionen der Vereinten Nationen gegen Libyen 1992/93 infolge des Attentats von Lockerbie, die sein Land in die politische Isolation und in eine schwere wirtschaftliche Krise geführt hatten, betrieb Gaddafi seit Ende der 1990er Jahre ganz bewusst eine Wiederannäherung an die westliche Staatengemeinschaft. Viele einzelne Schritte gehörten dazu, unter anderem eine Erklärung zum Verzicht auf Massenvernichtungswaffen; die Kooperation mit der EU in Flüchtlingsfragen reiht sich darin ein. Es waren also zuerst einmal taktische Gründe, die für die libysche Seite eine Rolle spielten. Gaddafi ging es darum, politische Geltung wiederzuerlangen und die Wirtschaft des Landes anzukurbeln. Inwieweit es ihm darum ging, die Flüchtlingsproblematik auf libyschem Territorium zu beherrschen, ist eine ganz andere Frage. Der nordafrikanische Staat war auf ausländische Arbeitskräfte dringend angewiesen. So erschien es sogar vorteilhaft, dass sich viele Migranten dort aufhielten, für die Libyen tatsächlich oft zum Beschäftigungsland wurde. Doch angesichts neuer wirtschaftlicher Krisen und einer ausländerfeindlichen Haltung in der libyschen Bevölkerung konnte es für den unberechenbaren Gaddafi auch opportun erscheinen, die Migranten schon an der Südgrenze des Landes zu stoppen.
Für Italien bzw. die EU war maßgeblich, die Zahl der Migranten, die Europa erreichen, zu reduzieren. Aber auch andere Motive hatten große Bedeutung. Die Wiederannäherung Libyens stieß u.a. auf reges Interesse, weil nun die Möglichkeit bestand, die Wirtschaftsbeziehungen auszubauen. Als Absatzmarkt für europäische Industrieprodukte und als Erdölexporteur spielte Libyen schon bald wieder eine wichtige Rolle. Zudem nutzte der Westen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA die von Libyen übermittelten Informationen über islamistische Terroristen, die sich auch in dem arabischen Staat zu einem gravierenden Problem der inneren Sicherheit entwickelt hatten.
Von diesem einen (kleinen) Kritikpunkt abgesehen, bietet die Studie von Annette Bonse in vielfacher Hinsicht wertvolle Orientierungen und ganz überwiegend differenzierte Einschätzungen. So verdeutlicht sie, dass die Bootsflüchtlinge lediglich einen geringen Teil des Problems ausmachen. Nur 12 bis 15 Prozent der irregulären Migranten gelangen auf diese Weise in die EU-Mitgliedstaaten. Die meisten Menschen reisen legal ein und werden erst nach Ablauf ihres Visums zu Illegalen. (20) Ferner weist Bonse auf die "zunehmende Verknüpfung zwischen migrations- und sicherheitspolitischen Themen" hin. (21) Eindringlich kann sie zeigen, wie sehr Silvio Berlusconi als italienischer Ministerpräsident die Bootsflüchtlinge instrumentalisierte, um Maßnahmen zur Abwehr von (angeblichen) Gefahren für die innere Sicherheit Italiens zu rechtfertigen und nationale Identität zu stiften. (44) Dagegen macht die Verfasserin deutlich, es sei nicht zu belegen, dass Bootsmigration den Terrorismus fördere. Nur bei einem kleinen Teil der festgenommenen Terroristen handele es sich um Bootsflüchtlinge. Würden Menschen in "Internierungslager" in Afrika rücküberführt, steige bei ihnen die Wahrscheinlichkeit, für entsprechende Infiltration besonders empfänglich zu sein. (75) Auch wenn zwischen dieser Form von Migration und Terrorismus oder organisierter Kriminalität kein direkter Zusammenhang bestehen sollte, bleibt die Frage nach der Bereitschaft von Flüchtlingen zu Gewalt und kriminellen Handlungen unterhalb dieser Ebene. Darauf gibt die Autorin keine Antwort.
Ohne als Anklägerin aufzutreten, macht Bonse klar, dass sie die Flüchtlingspolitik der EU für gescheitert hält. (94-96) Die Eindämmung von Migration auf bestimmten Routen führe lediglich zu einer Verlagerung dieser Wege; ein genereller Rückgang der Migration von Afrika nach Europa sei damit nicht verbunden. Das Ziel, die hohe Sterberate von Flüchtlingen zu senken, sei es in Wüstengebieten oder auf dem Meer, habe die EU verfehlt. Das Ausweichen auf andere Routen bringe häufig auch eine höhere Lebensgefahr mit sich. Italien bzw. die EU bedient(e) sich einer langen Reihe von Maßnahmen: vermehrte Kontrollen durch die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (Frontex), gemischte Patrouillen, Ausbau der Küstenüberwachung und der Kontrollen an den innerafrikanischen Grenzen sowie Ausbildung von Grenzpersonal in Libyen und anderen Ländern, Rückführungen, Rückübernahmeabkommen und Repatriierungsmaßnahmen, sogar Mitfinanzierung von "Internierungslagern". Gerade letztere sieht Bonse besonders kritisch: Die dort angekommenen bzw. dorthin rücküberführten Menschen befinden sich häufig aufgrund katastrophaler hygienischer Verhältnisse und schwerer Drangsalierungen durch das zuständige Personal in einer erbärmlichen Lage - in einem Land wie Libyen, das für Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, nicht überraschend.
Die vorliegende Studie widmet sich einem wichtigen Politikbereich, der aktueller denn je ist. Präzise, ohne Umschweife, einprägsam und kenntnisreich beschreibt die Verfasserin die Formen und Folgen der italienisch-libyschen bzw. europäisch-libyschen Kooperation in der Flüchtlingspolitik bis 2011. Ihr Urteil fällt in der Sache verheerend für die EU aus. Dabei versteht sie es stets, sachlich zu argumentieren - bei einem Thema, das menschliche Schicksale eindringlich vor Augen führt, keine Selbstverständlichkeit. Ihre Publikation ist von großem Wert.
Anmerkung:
[1] Vgl. http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2013/documents/papa-francesco_20130708_omelia-lampedusa.html (Zugriff am 8. Juni 2014).
Tim Szatkowski