Victor Parker: A History of Greece. 1300 to 30 BC (= Blackwell History of the Ancient World), Hoboken, NJ: John Wiley & Sons 2014, XXXII + 471 S., 63 s/w-Abb., ISBN 978-1-4051-9033-6, GBP 24,99
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Wiley-Blackwell fährt fort, sein Rundum-Sorglos-Paket für den akademischen englischsprachigen Unterricht in Alter Geschichte zu vollenden. Neben der gedruckt und digital angebotenen "Encyclopedia of Ancient History", den "Companions" und den z.T. schon mit Webplattformen vernetzten Quellensammlungen spielen dabei Lehrbücher und Gesamtdarstellungen ein zentrale Rolle. Deren größeres Format liegt im Bereich der griechischen Geschichte mit den Epochendarstellungen von Hall, Rhodes und Errington - z.T. schon in überarbeiteten Neuauflagen - bereits komplett vor. Mit Victor Parker konnte ein ausgewiesener Kenner als Autor eines einbändigen Überblicks gewonnen werden.
Die Aufmachung entspricht dem Standard englischsprachiger Bücher dieses Zuschnitts. Antike Namen und Fachbegriffe, die im umfangreichen Glossar (434-457) erklärt sind, erscheinen im Text fett; es gibt zahlreiche grau hinterlegte Kästen mit recht ausführlich erklärten Quellenstücken oder enzyklopädisch angelegten Sacherklärungen von Begriffen und Sachverhalten. Eine Übersicht der wichtigsten Daten eröffnet jedes Kapitel, den Abschluss bilden "Questions for Review" (zur Sicherung des Gelesenen) und eine oft bemerkenswert anspruchsvolle "Question for Further Study", die wohl als Anregung für einen Essay oder eine größere Untersuchung gedacht ist. Hier zeigt sich P. offen, wenn er etwa auffordert, einer bestimmten Interpretation nachzugehen, die im Gegensatz zu seiner eigenen, im Text dargelegten steht (z.B. 120). Den Schluss bilden jeweils Literaturhinweise; die zahlreichen Quellenverweise sind in den Text integriert.
Reizvoll auch für Interessierte hierzulande erscheint das Buch durch seine inneren Spannungen. P. unterwirft sich zwar dem vom Verlag gewünschten textbook-Format; er schreibt "in readable format the basic political history of the Greeks" (XXII). Es gibt Hinweise für den Einsatz im "classroom teaching"; Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Ideengeschichte konnten nur in engen Grenzen berücksichtigt werden. Aber der als Schüler von Fritz Gschnitzer akademisch in Deutschland (teil-)sozialisierte Gelehrte führt gelegentlich auch nicht-englischsprachige Forschungsliteratur an und traktiert den Leser mit quellenkundlichen Fakten, chronologischen Fragen und quellenkritischen Erwägungen, die man in einem Buch dieses Zuschnitts nicht unbedingt erwartet. [1] Auf Linear B-Täfelchen, Inschriften, chronographische Quellen oder Fragmente im Neuen Jacoby wird vielfach verwiesen; es gibt Einblicke in die Werkstatt der Interpretation auch schwieriger Texte wie der Großen Rhetra (101-103). Das imponiert. P. geht unbeirrt seinen Weg: Den Befund der Quellen auszubreiten hat Vorrang vor einem stärker abstrahierenden und synthetisierenden Zugriff; die griechische Welt in ihrer ganzen Vielfalt soll berücksichtigt werden (was in diesem Format aber kaum gelingen kann; so kommt Großgriechenland in archaischer Zeit kaum vor). Wo es den Autor interessiert, skizziert er Forschungskontroversen. In welchem anderen Werk dieser Art findet man drei Quellenberichte zu einem Ereignis - es ist die Schlacht von Sardeis 395 v. Chr. - gerafft nebeneinandergestellt, um die Technik der Quellenanalyse vorzustellen und zu zeigen, dass Diodor hier keinen eigenen Quellenwert hat, sondern auf der (für dieses Ereignis erhaltenen) Hell. Oxy. basiert, freilich über eine (verlorene) Zwischenquelle (235f.)?
Der Geographie von Griechenland sind einleitend fast zwanzig Seiten gewidmet; das erinnert an die Darstellungen von Ernst Curtius und Helmut Berve, doch P. bietet nicht idealisierende Impressionen, sondern eine Fülle von Fakten. Überflüssig erscheinen mir in diesem Zusammenhang allerdings viele der über das ganze Buch verstreuten Abbildungen, meist wikipedia oder wikimedia entnommen: detailarme Luft- oder Satellitenbilder, die wohl eine topographische Situation vor Augen führen sollen, wo eine Kartenskizze hilfreicher wäre, ein flaues Foto der Akropolis, auf dem fast nichts zu erkennen ist (122; kaum besser 179), die Thermopylen heute (links Berge, dann breites Tal mit Autobahn, 159) oder völlig inhaltlose Schnappschüsse, etwa des Euripos (13), eingefasst in betonierte Uferbegrenzung, mit einer modernen beweglichen Brücke und einem Hochhaus im Hintergrund. Was soll das?
Die Gschnitzer-Schule scheint bei P. auch durch, wenn er die Bronzezeit und Dark Ages relativ ausführlich vorstellt (21-72). Aus dem Studium der Linear B-Texte will er ein hohes Maß an Kontinuität herauslesen; die mykenische Religion war aufs Ganze gesehen "the same as classical Greek religion" (40); zwischen den Mykenern und den späteren Griechen, bestand eine im Kern ununterbrochene Linie (42); die frühe epische Dichtung hatte die Abenteuer der mykenischen Könige zum Thema (59); der Kontakt zum Orient riss nie ab (63, 67). Das mag man füglich anders sehen, aber der Autor kann hier wie auch sonst oft auf eigene Forschungsarbeiten verweisen. [2] Interne Spannungen oder eine systemische Überdehnung als mögliche Ursachen für den Kollaps der Paläste schließt er zugunsten einer eindeutigen Katastrophentheorie aus: Die Seevölker waren es! An der Dorischen Wanderung wird - mit den nötigsten Differenzierungen - festgehalten [3], ebenso an der Überlieferung über weit verbreitete Königsherrschaften in den Dunklen Jahrhunderten (60f.), die in der frühen Archaik von Aristokratien abgelöst worden seien (106f.). Die Polisentstehung kann knapp abmachen, wer der Ansicht ist, es habe bereits in den mykenischen Königreichen Strukturen gegeben, "which on the surface bear a certain resemblance to the classical polis" (61). Die Kontinuität wirkt in beide Richtungen; so stellt P. die Gemeinsamkeiten zwischen Königen und Tyrannen heraus und fragt, ob letztere nicht gegen die Aristokratie ihr eigenes Regime als Rückkehr eines alten, guten Königtums präsentiert haben könnten (111). [4] Durch ihre Bemühungen um eine Stärkung der eigenen Polis hätten diese Protagonisten der "last stage of kingship in Greece" (118) sich selbst aber letztlich überflüssig gemacht. P.s These, Solon sei ein gewählter Quasi-Tyrann gewesen, der den Athenern die Idee, sich einem Herrscher mit absoluter Macht zu unterwerfen, nahegebracht habe (129), wird allerdings durch Solons bekannte Äußerungen m.E. eindeutig widerlegt.
In den traditionellen Fluchtlinien deutet P. die Kolonisation: Überbevölkerung und Handelsinteresse seien die treibenden Kräfte gewesen. Für dieses Kapitel wird ausschließlich positivistische Literatur zitiert; konzeptuelle Sensibilität ist noch am ehesten in der Frage nach dem Verhältnis der "archaischen" Kolonisation und der Politik Athens und Korinths im 5. Jahrhundert erkennbar. Zu Sparta gibt es einen guten Überblick (93-105); die etwas spätere Datierung der Messenischen Kriege (690-670 bzw. 640-600) hatte P. schon früher eingehend begründet. [5] Generell kann man fragen, ob die erzählenden Quellen zur archaischen Zeit so faktographisch ausgewertet werden sollten, wie P. das schon in seiner Dissertation getan hat. [6] Auch einige der großen Themen der Archaikforschung der jüngeren Zeit - Ethnogenese, Bedeutung von Heiligtümern und Religion, materielle und aristokratische Kultur, Faktoren politischer Integration und Dissoziation - finden sich hier kaum. Wenn es um Herodot geht, dann um die Verlässlichkeit seiner Zahlen zu Heeresgrößen (160, 163), seine Verwendung zeitgenössischer Dichtung (6) oder seinen Zugang zu persischen Quellen (149). Die Perserkriege werden rein ereignisgeschichtlich abgehandelt; die kontrafaktische Frage nach wahrscheinlichen Folgen eines persischen Siegs findet sich immerhin in einer Essay-Anregung (150).
Während Ausbau und Eigenart des Attischen Seebundes differenziert dargelegt werden, erscheinen die gut zwei Seiten zur athenischen Demokratie eher uninspiriert. Wie man in der kleisthenischen Ordnung "antidemocratic check(s)" am Werke sehen kann (192), ist dem Rezensenten unerfindlich, schon weil der Ausdruck eine entwickelte Demokratie voraussetzt, die einer Einhegung bedürfte. Auch bildete die von wohlhabenden Bürgern besetzte Strategie im 5. Jahrhundert sicher kein "strong antidemocratic element" (193). P. verabsolutiert einfach eine Bestellung durch Wahl als nicht-demokratisch und ignoriert die zunehmende Ausrichtung der Aristokraten auf den Demos in Habitus und Kommunikation sowie die strikte Kontrolle gerade dieser Amtsträger. Die zuvor (135) noch oligarchisch gedeutete kleisthenische Boulê erscheint nunmehr als "a random cross-section of adult male citizens" (193). Seiner Linie, die athenische Demokratie als wenig demokratisch zu zeichnen, bleibt P. aber treu, wenn er etwa die apophasis als "oligarchic 'brake'" deutet und die Gesetzgebung im Nomothesieverfahren an eine Oligarchie im weiteren Rahmen einer Demokratie ausgeliefert sieht (229f.) - beides nicht sehr überzeugend.
Was den Ausbruch des Peloponnesischen Krieges angeht, betont P. (mit Recht) die Rolle Korinths und die lange Kette von Entscheidungen und Ereignissen, die schließlich zu einem eher unwahrscheinlichen Krieg führten ("unlikely", 200); dieser brach aber durch Athens "absolute inflexibility" (201) aus - so offen war die Konstellation also wohl doch nicht. Die Schilderung des Krieges selbst enthält gute Bemerkungen, etwa zur kreativen spartanischen Kriegführung schon im zweiten Jahr (202) oder zur Melos-Operation als Kompensation für die Niederlage bei Mantineia (214). In der faktenreichen Schilderung der Entwicklungen nach 404 werden die strukturellen Probleme der Außenpolitik in der griechischen Poliswelt leider nicht recht deutlich: dass im magischen Dreieck der Ziele - Autonomie, Hegemonie, Frieden - nie alle drei gleichzeitig zu erreichen waren, weil zwei zusammengedacht das jeweils dritte ausschlossen. Parker ist in diesem Teil des Buches offenkundig in seinem Element und kann seine Quellenkenntnis ausspielen, aber wegen der hohen Dichte überlieferter Ereignisse tritt die Analyse allzusehr in den Hintergrund. Dezidierte Urteile gibt es indes auch hier; so erscheint ihm der Zweite Attische Seebund im Laufe seiner Entwicklung "oppressive and high-handed just as in the time of the First League" (278). Dass Hellas im 4. Jahrhundert stark überbevölkert gewesen sein soll (280), ist eine These, deren Richtigkeit und Erklärungskraft zu diskutieren wäre.
Insgesamt finden sich in den übrigen Kapiteln des Buches weniger eigenwillige Urteile. [7] Die dichte Folge der Ereignisse dominiert noch mehr als zuvor; zu den Strukturen, treibenden Kräften und Mentalitäten der Akteure findet sich wenig. Die "boxes" stellen nun fast ausschließlich quellenkundliche Sachverhalte vor. Wer den von Fakten beinahe überquellenden Kapiteln zum Aufstieg Makedoniens, Alexander, den Diadochen und den hellenistischen Reichen folgen möchte, benötigt einen guten Historischen Atlas - die fehlenden Karten (nur zum Alexanderzug gibt es eine recht summarische: 314) sollten in einer Neuauflage unbedingt hinzugefügt werden.
Wer wissen will, warum es wichtig sein könnte, die griechische Geschichte der Antike zu studieren, sollte anderswo suchen. Zuschnitt und Faktendichte lassen es anzeigt erscheinen, P.s Buch in der Linie der Werke von Bury oder Hammond zu sehen, weniger bei Sealey, Morris / Powell oder Orrieux / Schmitt-Pantel (um hier einmal ausschließlich englischsprachige Werke anzuführen). Die Wahl ist dann letztlich Sache des Temperaments. [8]
Anmerkungen:
[1] Wer allerdings wie P. Hell. Oxy / Diodor gegenüber Xenophon zum verlässlicheren Zeugen erklären will, sollte die gründliche Untermauerung der gegenteiligen Ansicht nicht unerwähnt lassen; vgl. Bruno Bleckmann: Fiktion als Geschichte. Neue Studien zum Autor des Hellenika Oxyrhynchia und zur Historiographie des vierten vorchristlichen Jahrhunderts (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-hist. Kl., III 277), Göttingen 2007.
[2] Vgl. Victor Parker: From Mycenean to Classical Times: Continuity or Discontinuity?, in: Prudentia 39 (2007), 1-26. Nicht zu kennen scheint er Tassilo Schmitt: Kein König im Palast. Heterodoxe Überlegungen zur politischen und sozialen Ordnung in der mykenischen Zeit, in: HZ 288 (2009), 281-346; vgl. ders.: Vom Ende des Erfolgs. Überlegungen zum Untergang der mykenischen Palastzivilisation, in: Syngramma. Vorträge am Althistorischen Seminar. Hg. von Dorit Engster [u.a.], Göttingen 2009, 113-144. ( http://webdoc.sub.gwdg.de/univerlag/2012/syngramma1_lehmann.pdf )
[3] Victor Parker: Zur Datierung der Dorischen Wanderungen, in: Museum Helveticum 52 (1995), 130-154.
[4] Vgl. ausführlicher Victor Parker: Vom König zum Tyrannen. Eine Betrachtung zur Entstehung der älteren griechischen Tyrannis, in: Tyche 11, 1996, 165-186; ders., Tyrants and Lawgivers, in: H. Alan Shapiro: The Cambridge Companion to Archaic Greece, Cambridge 2007, 13-39. In die gleiche Richtung argumentiert jetzt Lynette Mitchell: The Heroic Rulers of Archaic and Classical Greece, London / New York 2013.
[5] Victor Parker: The Dates of the Messenian Wars, in: Chiron 21 (1991), 25-47.
[6] Victor Parker: Untersuchungen zum Lelantischen Krieg und verwandten Problemen der frühgriechischen Geschichte (Historia Einzelschriften, 109), Stuttgart 1997; vgl. Michael Whitby, CR 50 (2000), 642: "The result is an old-fashioned text, worthy and solid, but not in tune with current debates about the emergence of poleis or colonization."
[7] 312 schlägt P. vor, die Frage nach den Gründen für Alexanders frühen Tod umzudrehen: Angesicht von dessen Lebensführung sei erstaunlich, wie er es geschafft habe, so lange zu leben.
[8] John B. Bury / Russell Meiggs: A History of Greece to the Death of Alexander the Great. Fourth Edition, London 1975; Nicholas G. L. Hammond: A History of Greece to 322 B.C. Third Edition, Oxford 1986; Raphael Sealey: A History of the Greek City States 700-338 BC. Berleley [u.a.] 1976; Ian Morris / Barry Powell: The Greeks. History, culture, and society, Upper Saddle River [u.a.] 2006; Claude Orrieux / Pauline Schmitt-Pantel: A history of ancient Greece. Translated by Janet Lloyd, Malden [u.a.] 1999.
Uwe Walter