Sabine Maier / Rüdiger Maier: Der Cranach-Altar zu Neustadt an der Orla (1513). Unterzeichnung und malerische Ausführung, Regensburg: Schnell & Steiner 2014, 332 S., 188 Farbabb., ISBN 978-3-7954-2743-6, EUR 49,95
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Auf 330 Inhaltsseiten, strukturiert gestaltet und mit informativem Bildmaterial versehen, bestehend aus ca. 50 farbigen und 100 schwarz-weißen Fotos, fassen die Restauratorin Sabine Maier und ihr Mann, der Physiker Rüdiger Maier, ihre Forschungen zum eindrucksvollen Wandelaltar in der Stadtkirche St. Johannis zu Neustadt an der Orla zusammen. [1] Das Werk richtet sich in erster Linie an ein an Cranach interessiertes Fachpublikum und wird über die Menge des ausgebreiteten Materials zur Herausforderung.
In der inhaltlich anspruchsvollen und ausführlichen Behandlung unterschiedlicher Fragestellungen zu Händescheidung und Werkstattorganisation von Lucas Cranach dem Älteren am Beispiel des Neustädter Retabels spiegelt sich die uneingeschränkte Bereitschaft der Autoren, sich dem Thema mit großem persönlichem Einsatz zu widmen. Schon in der Einführung wird aus der eher beiläufigen Erwähnung der Untersuchungsmethodik der zeitliche Aufwand der Datenerhebung deutlich: Mittels 8600 (!) Makro-Einzelaufnahmen wurde im nahen Infrarot ein zusammenhängendes, hoch auflösendes Infrarotreflektogramm generiert.
Es ist die erklärte Absicht des Autorenteams, "mit dieser Arbeit ein Desiderat zu beheben" und "ein[en] Anfang zur Erforschung des Altarbestandes als auch eine Interpretation der ablesbaren Bildgenerierungsvorgänge" zu ermöglichen.
In neun übersichtlich gegliederten Hauptkapiteln werden allgemeine kunstwissenschaftliche sowie werkimmanente Aspekte behandelt. Die Erkenntnisprozesse, die bereits in den Anfangskapiteln umrissen werden, sind hauptsächlich induktiv formuliert. Allgemeine Theorien zur Kunst und Kunstausübung am Übergang vom ausgehenden Mittelalter zur Frühen Neuzeit spielen jedoch (deduktiv) eine ebenso wichtige Rolle bei der Ausformulierung der Thesen.
In der ab Seite 24 vorweggenommenen Einschätzung zur besonderen Stellung des Altarwerks deuten die Autoren bereits an, dass "die Neustädter Tafelmalerei zu jenen Arbeiten Cranachs zähle, in denen klassische Renaissance-Vorbilder integriert" seien, was aus einer "bewusst gewählten Schlichtheit" und dem glatten Malschichtaufbau abzulesen sei. Die im weiteren Verlauf dezidiert dargelegten Befunde der Infrarotuntersuchungen lassen zudem eine Abweichung von den "für Cranach so typischen detail- und formpräzisierenden Linien" erkennen. Damit verbinden die Autoren nicht nur arbeitsökonomische Gründe, sondern vielmehr die Annahme, "dass wegen der (auf Stiftungen rückgreifenden) bürgerlichen Auftraggeber eine bewusste Zurücknahme des höfischen Repräsentationsstils angestrebt wurde." (25)
Bezogen auf Cranachs Arbeitsweise wird von einer "spezielle[n] maltechnische[n] Merkmalsentwicklung" (30) ausgegangen. Nach Ansicht der Autoren habe diese Maltechnik ihren Ausgang in der Anfangszeit der Wittenberger Cranach-Werkstatt genommen und sich in einer Effizienzerhöhung durch den Verzicht auf die komplizierte Schichtenmalerei des 15. Jahrhunderts manifestiert. Die "maltechnische Novität", die am Neustädter Altar ablesbar ist, "bestand in der summarischen Behandlung und Vereinfachung von Formverläufen". Inwieweit sich diese Feststellung systemisch auf die Cranach'schen Bildwerke ab 1505 übertragen lässt, muss allerdings weiterer Forschung vorbehalten bleiben.
Nach den im ersten Hauptkapitel vorgestellten Thesen, die auch die Unterzeichnungsebene und deren Funktion im Gefüge des Bildentstehungsprozesses umfassen, handelt das zweite Kapitel von den Ursachen und der Wirkung der eingangs manifestierten aktiven Modifizierung der Maltechnik. Diese Beobachtungen werden in den Rahmen einer allgemeinen kunsttheoretischen Betrachtung eingebettet. Besonders in diesem Teil des Werkes offenbart sich die Schwierigkeit im Umgang mit dem Topos Cranach, der auch als wissenschaftsgeschichtliches Phänomen anzusehen ist. Sowohl die Ambivalenz in der Bewertung des Altars durch die Kunstgeschichtsschreibung als auch die auf das Cranach'sche Œuvre bezogene Rezeptionsgeschichte erschweren eine unvoreingenommene und ergebnisoffene Abhandlung nachhaltig. Auch die Autoren bleiben von der Gefahr tradierter Interpretationsmuster nicht gänzlich verschont. Möglicherweise wäre mit der naturwissenschaftlich motivierten Untersuchung besser ein Verzicht auf die Adaption gängiger Wertvorstellungen einhergegangen, wodurch dem Leser der Blick auf das Wesentliche erleichtert worden wäre. Einlassungen zu Johannes Erichsens "Negativ-Einschätzungen" bezüglich der Qualität der Tafeln (81) in Neustadt hätte es innerhalb einer Studie, die zudem in Qualität und Quantität für sich steht, ebenso nicht bedurft wie der möglicherweise daraus resultierende Versuch einer "Ehrenrettung" des Retabels bzw. seiner Schöpfer. Sowohl der Hinweis auf die noch ausstehende präzise naturwissenschaftliche Untersuchung der Maltechnik Cranachs (72) als auch die "bis dato vorurteilsbehafteten Fehleinschätzungen von Werkstatterzeugnissen" (80) sind jedoch als Kernargumente geeignet, um eine umfassende Betrachtung einzelner Altar-Werke zu rechtfertigen.
Ab dem dritten Hauptkapitel (97) werden vor allem die 2003 von Johannes Taubert (†1975) edierten Überlegungen zur veränderten Gewichtung von Form und Farbe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit eingegliedert. Demnach vollziehe sich im betreffenden Zeitraum eine Wandlung von einer "flächig-strukturierte[n] Verwendung von Form und Farbe des Mittelalters" zu einer "Integration der kompositionellen Angaben im räumlichen Gefüge" (102): Während traditionell in der Schichtenmalerei des Mittelalters die Angabe der Farbbereiche mit der Unterzeichnung erfolgte, wurden nunmehr "die für den maltechnischen Aufbau verbindlichen Bemessungsgrenzen der Farbflächen in der Unterzeichnung" zugunsten einer veränderten künstlerischen Zielrichtung aufgegeben, was mit einem größeren Gestaltungsspielraum innerhalb des Bildentstehungsablaufs einherging. Für Cranachs Arbeitspraxis ab dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts sehen die Autoren darin eine "Aufspaltung in schöpferische und ausführende Arbeitsgänge", um im "Bildgenerierungsverlauf" das "malerische Ziel überprüfend zu einer ständigen Verbesserung der Bildraumwirkung" zu gelangen (105). Bezogen auf den Neustädter Altar erkennen die Autoren eine Aufwertung der schöpferischen Zeichnungsanlage auf dem Malgrund, die ihrer Funktion nach bereits zu einer Kunstäußerung geworden sei und "nach eigenen schöpferischen Kriterien bewertet werden kann" (111).
Bevor mit Hauptkapitel IV detailliert auf die einzelnen Tafeln eingegangen wird und Komposition, Darstellung und Erhaltungszustand bewertet werden, fasst der Abschnitt 4.1 (118) die wesentlichen Inhalte des Buches zusammen und attestiert Cranach eine "Assimilation der führenden Kunstströmungen seiner Zeit" (123).
Im Vergleich zur Ausführlichkeit, mit der Bildprogramm und Bildgenerierung des Neustädter Wandelaltars behandelt werden, können die zu Vergleichszwecken herangezogenen Altäre aus der Saalfelder Werkstatt allenfalls als Streiflichter gelten, was sicherlich dem Stand der Forschung geschuldet ist. Auch hieraus wird deutlich, dass nicht die umfassende Dokumentation der Neustädter Tafeln ein Desiderat darstellt. Vielmehr besteht dieses in der noch ausstehenden Erforschung des gesamten Bestandes an Cranach-Altären. Sabine und Rüdiger Maier haben hierzu das Fundament in vorbildlicher Weise gelegt.
Ob auf diesem soliden Fundament ein verzahntes Mauerwerk aus weiteren Einzeluntersuchungen entstehen kann, muss derzeit jedoch bezweifelt werden. Immerhin wird der ernst zu nehmenden Cranach-Forschung der Zugang zu den größtenteils in der Obhut der Landeskirchen befindlichen Bildwerke institutionell verwehrt.
Umso wichtiger sind Einzelinitiativen wie die vorliegend besprochene Untersuchung, deren Triebfedern Begeisterung und Forscherdrang sind.
Anmerkung:
[1] URL: http://www.youtube.com/watch?v=On-H-M6cLsk, (Aufruf 24.06.2014).
Michael Hofbauer