Rezension über:

Andreas Mehl / Alexander V. Makhlayuk / Oleg Gabelko (eds.): Ruthenia Classica Aetatis Novae. A Collection of Works by Russian Scholars in Ancient Greek and Roman History, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, 235 S., ISBN 978-3-515-10344-2, EUR 46,00
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Rezension von:
Balbina Bäbler
Georg-August-Universität Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Balbina Bäbler: Rezension von: Andreas Mehl / Alexander V. Makhlayuk / Oleg Gabelko (eds.): Ruthenia Classica Aetatis Novae. A Collection of Works by Russian Scholars in Ancient Greek and Roman History, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/09/23224.html


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Andreas Mehl / Alexander V. Makhlayuk / Oleg Gabelko (eds.): Ruthenia Classica Aetatis Novae

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Der Band vereint 14 Aufsätze, die zwischen 2003 und 2010 von jungen russischen Althistorikern während eines Studienaufenthaltes an der Universität Halle verfasst wurden; Ziel ist es, dem westlichen Publikum einen Einblick in Arbeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses in Russland zu geben, die hierzulande kaum wahrgenommen werden, da leider immer noch gilt "Rossica non leguntur" (7).

Von allgemeinem Interesse nicht nur für Althistoriker, sondern für alle an Wissenschaftsgeschichte Interessierten, ist die Einleitung der beiden russischen Herausgeber, die einen Überblick über die russische Altertumswissenschaft von ihren Anfängen bis heute gibt, der in ebenso klarer wie bedrückender Weise die Ursachen der heutigen gravierenden Probleme dieser Fächer im Land aufzeigt (13-30). Die Förderung der klassischen Altertumswissenschaft war am Anfang Teil der forcierten Europäisierung des Landes durch Peter den Großen und zeitigte rasch große Erfolge, nicht zuletzt aufgrund des reichen archäologischen Materials an der Schwarzmeerküste. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts waren nicht nur höchste Standards im internationalen Vergleich erreicht, sondern die klassische Bildung war auch in der Bevölkerung erstaunlich weit verbreitet. Bereits zu dieser Zeit (um 1860/70) wurde aber auch die bis heute katastrophale strikte Teilung in hauptstädtische (d. h. Moskauer und St. Petersburger) und provinzielle, sowie in akademische (der Forschung gewidmete) und universitäre (der Ausbildung der Studenten dienende) Wissenschaft institutionalisiert.

Die Revolution von 1917 bedeutete nicht nur Stillstand, sondern einen enormen Verlust wissenschaftlicher Kapazität, da viele Intellektuelle ins Exil gingen; die Situation verschärfte sich in der Folge durch die gezielte Auslöschung der traditionellen klassischen Bildung und Abschaffung der entsprechenden Zeitschriften; gerade auf die Alte Geschichte wurde in den folgenden Jahren ein enormer ideologischer Druck durch die von Stalin vorgegebene Geschichtstheorie ausgeübt. Bereits die Erwähnung in einer westlichen Zeitschrift war für russische Althistoriker lebensgefährlich. Seit den 1950er Jahren entspannte sich die Situation etwas; die russische Altertumswissenschaft gewann zunehmend eigenes Profil, und zahlreiche Werke zur antiken Sklaverei und zur Schwarzmeerarchäologie wurden auch in westliche Sprachen übersetzt. Die ideologische Lücke nach dem Fall des Eisernen Vorhangs führte zwar zu einem Zusammenbruch des Ansehens der Geschichtswissenschaft, aber auch zu vielen positiven Ansätzen, wie nicht zuletzt zahlreiche neue Reihen und Zeitschriften bezeugen. Die extremen Schwierigkeiten junger russischer Wissenschaftler sind heute materieller Natur: Sehr viele brauchen zum Überleben eine zweite, meist nicht-akademische Stelle, und der Mangel an (westlicher) wissenschaftlicher Literatur ist an allen Institutionen gravierend.

Wie viel die russischen Kollegen zu bieten haben, zeigen die vierzehn, chronologisch angeordneten Beiträge (drei zum archaischen und klassischen Griechenland, vier zur hellenistischen Epoche, vier zur römischen Republik und zwei zur römischen Kaiserzeit), von denen hier aus Platzgründen nur auf ein paar eingegangen werden kann:

Beeindruckend in Genauigkeit und scharfsinniger Analyse aller vorhandenen Quellen ist der Versuch einer Einordnung und Rekonstruktion des Gesetzeswerkes des Charondas durch M. F. Vysokii (31-44).

Etwas weniger überzeugend scheint mir der Beitrag von I. E. Surikov ("Herodotus and the Philaids", 45-70), der von der Annahme ausgeht, Herodot habe in den 460er Jahren Athen besucht und dabei eine grundsätzliche Sympathie für die Philaiden gefasst (das Fehlen von Quellen zu diesem Punkt wird (47f.) als irrelevant erklärt, da ein "young, energetic, gifted and very inquisitve Hellene" unbedingt das intellektuelle Zentrum der damaligen Welt besucht habe). Demzufolge werden alle auf Angehörige der Philaiden bezogenen Passsagen grundsätzlich positiv gedeutet (vgl. auch das Resümee, 67f.); selbst die Schilderung von Miltiades' Verhalten auf der Chersonnes (VI 34-41) wird als bewundernde Darstellung einer "cunning intelligence" (metis) eines Odysseus-artigen Helden interpretiert (54f.), was doch eher zweifelhaft sein dürfte.

Dieselbe Problematik eines weitgehenden Schlusses e silentio beeinflusst meines Erachtens auch den ansonsten sehr interessanten Beitrag von A. V. Kondakov ("Mithridates and Sertorius", 159-172), der die ersten Kontakte zwischen Sertorius und Mithridates überzeugend in die Mitte der 70er Jahre v. Chr. datiert und eine genaue Darstellung von Chronologie und Ablauf der Allianz liefert. Doch lässt sich aus dem Fehlen einer expliziten Verurteilung des Sertorius in den antiken Quellen wirklich schließen, dass die Römer dessen Bündnis mit dem letzten gefährlichen Gegner Roms nicht als kriminellen Akt betrachteten? Die Beispiele, die (169) dafür angeführt werden, dass solche Allianzen häufiger geworden und daher nicht mehr als Hochverrat betrachtet worden seien - Catilina und die Allobroger, Marc Anton und Cleopatra - scheinen mir diese These eher zu widerlegen, bedenkt man die Reaktion der römischen Öffentlichkeit.

Mehrere Aufsätze befassen sich mit Fragen politischer Propaganda und insbesondere auch mit dem schwierigeren und daher oft vernachlässigten Aspekt der Reaktion des intendierten Publikums darauf (S. V. Smirnov, "The Elephant Chariots at Daphne: An Aspect of the Ideological Policy of Antiochus IV", 118-121); E. V. Smykov, "Sulla in the East: Venus contra Dionysum", 15-158); besonders interessant ist in dieser Hinsicht der Beitrag von I. A. Ladynin ("A Fragment of an Early Hellenistic Egyptian Clepsydra from the State Hermitage, St. Petersburg"), da es sich nicht um ein offizielles Dokument, sondern einen Alltagsgegenstand handelt. Der Autor kann anhand der Analyse der hieroglyphischen Inschrift nachweisen, dass die makedonischen Herrscher in Ägypten offenbar kaum als sakrale rituelle Könige akzeptiert waren und ihre Bemühungen, sich als wahre Pharaonen zu präsentieren, an Grenzen stießen.

Von besonderem Interesse ist schließlich das einmalige Zeugnis, das O. L. Gabelko ("A Historical and Epigraphic Commentary on Hypsicrateia's Epitaph", 173-183) präsentiert, nämlich der 2005 bei Unterwassergrabungen vor Phanagoreia aufgetauchte Grabstein der Ehefrau des Mithridates, die in der Inschrift mit der männlichen Namensform "Hypsikrates" verewigt ist, was die Überlieferung bei Val. Max. IV 6 ext. 2 und Plut. Pomp. 32,13-15 über die Frau, die wie ein Mann neben Mithridates kämpfte, bestätigt. [1]

Unabhängig von der oben angedeuteten inhaltlichen Kritik bietet jeder Beitrag eine anregende Lektüre mit vielen Denkanstößen. Insgesamt ist dieser Band ein sehr gelungenes Unternehmen, dem man gerade in der heutigen Zeit, in der Zusammenarbeit erneut erschwert ist, möglichst bald Nachfolger wünschen möchte.


Anmerkung:

[1] Siehe dazu den jetzt erschienenen Aufsatz von H. Heinen, der diese Überlieferungen in einem weiteren kulturgeschichtlichen Kontext verortet. H. Heinen: Hypsikrateia / Hypsikrates: Travestie aus Liebe. König Mithridates Eupators Page und eine neue griechische Inschrift aus Phanagoreia /Russland, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2012, 213-231.

Balbina Bäbler