Rezension über:

Michela Passini: La fabrique de l'art national. Le nationalisme et les origines de l'histoire de l'art en France et en Allemange 1870-1933 (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Vol. 43), Paris: Éditions de la Maison des sciences de l'homme 2012, XX + 342 S., ISBN 978-2-7351-1439-9, EUR 48,00
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Rezension von:
Antonie Wiedemann
Genua
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Antonie Wiedemann: Rezension von: Michela Passini: La fabrique de l'art national. Le nationalisme et les origines de l'histoire de l'art en France et en Allemange 1870-1933, Paris: Éditions de la Maison des sciences de l'homme 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/10/23040.html


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Michela Passini: La fabrique de l'art national

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Michela Passini füllt mir ihrer Studie ein Desiderat der Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte, die sich in der Vergangenheit im Vergleich zu anderen historischen Disziplinen wenig selbstreflexiv in der Untersuchung des kulturgeschichtlichen Kontexts der eigenen Gründungsgeschichte gezeigt hat. Passini gelingt es in beeindruckender Weise zu zeigen, wie der Nationalismus ein entscheidender, struktureller Faktor für die Institutionalisierung der Kunstgeschichte in Frankreich und Deutschland um die Jahrhundertwende war. Sie wählte dabei zwei der meist diskutierten Themenbereiche als Analysegegenstand: die Infragestellung des italienischen Ursprungs der Renaissance (Teil I, 9-141) sowie die Stilisierung der Gotik als jeweils national typische Kunst in Deutschland und Frankreich (Teil II, 145-250). Passini untersuchte dabei sowohl die Schriften bekannter, als auch fast in Vergessenheit geratener deutscher und französischer Kunsthistoriker, als auch Schriften privater Natur (Tagebücher, Briefwechsel), die teils über die eigentliche Fragestellung hinaus interessante Einblicke in die Wissenschaftsgeschichte bieten.

Im ersten Teil wird zunächst der Konstruktion einer spezifisch französischen Renaissance in den Texten von Courajod und Vitry nachgespürt, die italienische Einflüsse als Gefahr für die französische und flämische Kunst betrachteten. Besonders aufschlussreich ist dabei der Fall von Eugène Müntz, dem - so suggeriert die Autorin - aufgrund seiner Betonung des italienischen Einflusses auf die französische Renaissance die Nachfolge von Hippolyte Taine an der École nationale supérieure des beaux-arts in Paris verwehrt wurde. Dass sich die Positionen französischer und deutscher Kunsthistoriker bei ihrem gleichzeitigen Versuch, eine nationale Renaissance in Abgrenzung zur italienischen herauszuarbeiten teils deckten, wird durch die Analyse von Thodes Franz von Assisi deutlich: ebenso wie Émile Gebhart distanzierte sich der deutsche Kunsthistoriker von den Thesen Burckharts und negierte den Einfluss der Antike auf die Frührenaissance. Wie Gebhart, stellte Thode die Religion als ausschlaggebenden Grund des Stilwandels in den Vordergrund. Letzterer sah allerdings auch einen engen Kausalzusammenhang zwischen Renaissance und Reformation, was Deutschland in Thodes nationaler Interpretation zum bewahrenden Hort der wahren Renaissance und Zentrum eines christlich-germanisch geprägten Humanismus machte. Letztlich, und darin liegt die Besonderheit, versuchte Thode nämlich die Frage, was denn das spezifisch Deutsche an der deutschen Kunst sei nicht nur rückwärtsgewandt im Hinblick auf die Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts zu beantworten, sondern bekanntermaßen auch in Bezug auf die Zukunft der deutschen Kunst, die sich in Abgrenzung zur französischen entwickeln sollte.

Im dritten Kapitel wird schließlich anhand der rechts- wie linksrheinisch fast gleichzeitig organisierten Ausstellungen über die "Primitiven" ermittelt, wie nationale Kunstidentitäten nicht nur konstruiert, sondern auch popularisiert wurden. Auch Passinis Lektüre Wölfflins in diesem Kontext erscheint äußerst aufschlussreich: im Gegensatz zu Autoren wie Worringer und Dehio identifizierte der Schweizer das "Deutsche" nicht mit dem Irregulären, sondern räumte die Möglichkeit einer nordischen Renaissance und Klassik ein.

Im zweiten Teil des Bandes wird der Blick schließlich auf die Debatten um den Nationalcharakter der Gotik gerichtet. Während von der französischen Kunstgeschichte die Gotik zum Nationalstil erklärt wurde, wurde auf rechtsrheinischer Seite versucht, derselben Stilepoche etwas genuin Deutsches abzuringen. Wie Passini dabei aufzeigt, lief dies trotz unterschiedlicher Methoden und Auslegungen (die Autorin untersuchte u.a. die Texte von Dehio, Worringer und Gerstenberg) immer darauf hinaus, das Spezifische einer Spät- oder Sondergotik zu erkennen, das sich unabhängig entwickelt habe. In Kapitel VII, einem der interessantesten der Studie, wird die symbolische Aufladung und Radikalisierung der Gotikfrage während des ersten Weltkrieges erörtert. So wurde die Zerstörung der Kathedrale von Reims von den französischen Kunsthistorikern als Versuch bewertet, den Kern der französischen Identität zu treffen.

Während auf französischer Seite Autoren die deutschen Verbrechen an der französischen Kunst anprangerten, veröffentlichten unter anderem Otto Grautoff und Wilhelm von Bode Schriften, in denen sie den deutschen Kunstschutz glorifizierten und der französischen Artillerie unterstellen, eigene Denkmäler zerstört zu haben. Indem eine Parallele zwischen Gotik und griechischer Kunst gezogen wurde, stilisierte die französische Kunstgeschichte, so Passini, Frankreich zum Vertreter eines universellen Humanismus und Deutschland zum zerstörerischen Barbarenvolk.

Im abschließenden achten Kapitel des Buches wird die Figur Henri Focillons und seiner Art d'Occident (1938) untersucht, die er als humanistisch, monumental und rational - als französisch - charakterisiert und somit in Gegensatz zu Strzygowskis Idee des nordischen, irrationalen Genies stellt.

Es gelingt Michela Passini, anhand einer eindrucksvollen Fülle von Material eine schlüssige Analyse des Verhältnisses von Kunstgeschichte und Nationalismus zwischen 1870 und 1933 vorzulegen und das Wechselverhältnis zwischen Institutionengeschichte, Ideengeschichte und politischer Geschichte in der Kunstgeschichte eindrucksvoll aufzuzeigen. Dass dabei im zweiten Teil des Bandes der Fokus vielleicht zu sehr auf die französische Historiografie verengt ist, und zum Beispiel Josef Strzygowskis Texte eine breitere Erörterung verdient hätten, fällt nicht weiter ins Gewicht.

Antonie Wiedemann