Hans Nordsiek (Bearb.): Die Kirchenvisitationsprotokolle des Fürstentums Minden von 1650. Mit einer Untersuchung zur Entstehung der mittelalterlichen Pfarrkirchen und zur Entwicklung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Minden (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. Neue Folge; Bd. 7), Münster: Aschendorff 2013, 597 S., 2 Einlegekarten, ISBN 978-3-402-15113-6, EUR 49,00
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Aus einer geplanten reinen Quellenpublikation zu diesem Thema ist dank der erforderlichen Transkriptionen, Anmerkungen und Erläuterungen ein umfangreiches Werk geworden, welches einen genauen Einblick in die kirchlichen Verhältnisse, einschließlich der Schulen, im ehemaligen Fürstentum Minden im Jahre 1650 vermittelt.
Kirchliche Visitationen hatte es zwar auch schon vor der Reformation gegeben, doch wurde dieses Instrument der Information und Kontrolle nach der Reformation schon recht früh und intensiv eingesetzt, wobei der von Melanchthon verfasste "Unterricht der Visitatoren" für das Kurfürstentum Sachsen vielfach als Vorbild diente. [1]
Das Bistum Minden, gegründet um 800, war nicht deckungsgleich mit dem Hochstift oder Fürstbistum Minden, was häufig zu Verwechslungen geführt hat (9-10). Im Westfälischen Frieden von 1648 ging es um Territorien, nicht um Bistümer als solche. Im Falle von Minden dementsprechend um das eigenständige geistliche Reichsfürstentum Minden, in dem sich ab 1529 unter einer katholischen Hierarchie eine evangelisch-lutherische Landeskirche gebildet hatte. Dieses Fürstentum ging 1648/50 an die Kurfürsten von Brandenburg. Der vorliegende Band gibt nun eine Übersicht darüber, "wie das brandenburgische Territorium Minden um die Mitte des 17. Jahrhunderts politisch, administrativ und kirchlich beschaffen war."
Im ersten Großabschnitt wird zunächst auf "Die kirchlichen Verhältnisse im Territorium Minden und die Kirchenvisitationen 1650" eingegangen (11-179). Im zweiten Abschnitt werden dann die Visitationsprotokolle aus 33 Kirchspielen des Fürstbistums Minden wiedergegeben.
Zunächst werden die visitierten Pfarrkirchen erwähnt und in einem zweiten Abschnitt die genauen Protokolle aus den Ämtern Rahden, Reineberg, Hausberge, Petershagen und Schlüsselburg vorgelegt. Dies schließt den Fragenkatalog des Superintendenten und ein Verzeichnis der Kirchspiele mit ein (185-495).
Der erste Großabschnitt geht auch ausführlich auf den Übergang des Fürstentums Minden an den Kurfürsten von Brandenburg, auf Topographie und Verwaltung, das Landeskonsistorium, die Struktur der Landeskirche 1650 und den Kirchenvisitator Julius Schmidt ein.
Auf seiner Rückreise von Wesel nach Berlin im Jahre 1650 nahm der Kurfürst in Petershagen, dem Sitz der Bischöfe von Minden, den Huldigungseid der Stände des Fürstbistums entgegen und übergab Magister Julius Schmidt die Bestallungsurkunde als Superintendent.
Da die Bischöfe von Minden nur im gleichnamigen Fürstentum auch Landesherren gewesen waren, ging auch nur dieses Fürstentum mit 1163 Quadratkilometern an den Kurfürsten von Brandenburg über. Es bestand aus fünf Ämtern mit landesherrlicher Burg und Verwaltung. Die Städte Minden und Lübbecke waren direkt dem Landesherrn unterstellt und nicht Teil der Landeskirche mit ihrem Konsistorium und dem Superintendenten in Petershagen. Dieser war für 34 Kirchengemeinden zuständig. Für die jeweilige Kirchspielschule an der Pfarrkirche waren Pfarrer und Konsistorium, für Besoldung und Bauangelegenheiten allein die Kirchengemeinde verantwortlich.
Mit dem Übergang des Fürstentums Minden an Brandenburg hatte dessen reformierter Herrscher auch die Kirchenhoheit über die fast vollständig evangelisch-lutherische Bevölkerung übernommen. Er war somit "summus episcopus" über Lutheraner, Reformierte und Katholiken geworden.
Letztere waren allerdings kaum noch vorhanden. Die Städte Minden und Lübbecke behielten ihre eigene Kirchenhoheit. Sie war Teil der Landeshoheit, doch durfte der Kurfürst nicht in den eigentlich geistlichen Bereich der Kirche eingreifen. Somit bestand im Fürstentum Minden auch nach 1650 keine kirchliche Einheit. Es gab eine Landeskirche, zwei eigenständige Stadtkirchen, mehrere katholische Konvente und kleinere Gruppen katholischer Laien, alle unter der Kirchenhoheit des Kurfürsten. Hinzu kam, dass einige Sprengel außerhalb des Fürstentums lagen, wie es auch Kirchspiele im Fürstentum gab, die einer fremden Jurisdiktion unterstanden.
Anreger und "Spiritus Rector" der ersten evangelischen Kirchenvisitation im Fürstbistum Minden war der 1618 in Celle geborene Landessuperintendent Julius Schmidt. Er war 1644 zum Pfarrer ordiniert und bereits 1646 von der schwedischen Besatzungsmacht zum Pastor Primarius ernannt worden. Ab 1647 hatte er seinen Wohnsitz in Petershagen. Sein Jahresgehalt betrug einschließlich aller Zulagen 329,5 Taler. Er blieb immer auch erster Pfarrer in Petershagen. Schmidt war ein strenger Ahnder bei Verstößen gegen kirchliche Gebote, "damit der Zorn Gottes dem Land erspart bliebe". Unglücke sah er als Strafe Gottes an.
Während seiner Amtsperiode wurden noch 44 Hexen hingerichtet. Nach sorgfältiger Vorbereitung, Anordnung und Ankündigung begann er am 19. Juni 1650 die erste evangelische Kirchenvisitation im Fürstbistum Minden.
Dort hatte die Reformation 100 Jahre zuvor begonnen und nun galt es, die kirchlichen Verhältnisse nach dem 30-jährigen Krieg gründlich in Augenschein zu nehmen. Dies betraf die Pfarrer und das übrige Kirchenpersonal, das Schulwesen, die Lebensführung der Gemeindemitglieder, den Katechismusunterricht, Missstände, Defizite und Fehlentwicklungen auf allen Gebieten. Die Visitation war allein Schmidts Werk, der reformierte Landesherr hatte kein besonderes Interesse an einer Übersicht über die evangelisch-lutherische Landeskirche. Das Abschlussprotokoll, in dem das Amt Petershagen fehlte, wurde auch nicht nach Berlin geschickt. Schmidt sah die Generalvisitation zudem als eine Vorarbeit für eine Kirchenordnung an, die aber nicht zustande kam. Er besuchte alle Kirchengemeinden, wobei ihm grundsätzlich jeder Gespanninhaber "Kirchenfuhren" zu leisten hatte.
Julius Schmidt fand die Kirche im Fürstentum Minden aufgrund von Kriegszerstörungen und weitverbreiteter Armut in einem "kläglichen Zustand" vor. Es herrschten Indifferenz, Kirchenferne und Unwissenheit. Sitte und Moral waren verkommen, zahlreiche Hofstätten lagen wüst. Es ging also um die Verhältnisse der Kirchengemeinden in einem verarmten Land und deren Verbesserung.
In der Zeit vom 20.7. - 13.12.1650 visitierte der Superintendent 33 Pfarrkirchen, immer eine pro Tag, mit acht Unterbrechungen. Die daraus resultierenden Protokolle stellen eine hervorragende landes- und kirchengeschichtliche Quelle dar. Der jeweilige Protokollant wurde von Amtswegen gestellt und die gesammelten Einzelprotokolle zu einem Aktenband zusammengefasst. Nach einer Beschreibung der laut "Itinerar" besuchten Pfarreien (84-179) wird das Gesamtprotokoll mit genauen Anmerkungen vorgestellt, dem das Verzeichnis der Fragen vorausgeht, die der Visitator den Pfarrern, Lehrern und Kirchenvorstehern zu stellen beabsichtigt. (206-503). Das Visitationsformular ist in hochdeutscher Sprache verfasst, wie auch die Antworten. Fragen und Antworten gehen gelegentlich durcheinander, werden ausweichend oder auch gar nicht beantwortet. Neun Fragen richten sich an Studium und Berufung eines Pfarrers, zwölf an die Ausübung seines Amtes, ebenso viele an seine Amtsführung. Hinsichtlich der Taufe sind es sechzehn Fragen, bei Beichte (Ohrenbeichte) sind es elf, beim Abendmahl acht, bei Leben und Wandel des Pfarrers drei Kapitel mit insgesamt fünfzehn Fragen, auf die Eheschließung beziehen sich fünf Fragen. 21 Fragen betreffen das Gemeindeleben. Die Gemeindeältesten sollen auf elf Fragen antworten, sechzehn Fragen betreffen die Schulen. An den Küster richten sich neun Fragen, die geistlichen und Kirchengüter werden mit elf Fragen abgehandelt und vier Fragen betreffen die Witwen der verstorbenen Pastoren. Es folgen die genauen Protokolle aus den einzelnen Ämtern (217-505) mit ausführlichen Anmerkungen des Herausgebers.
Ein Abkürzungsverzeichnis, ein Glossar mit Erklärungen nicht mehr gebräuchlicher, seltener und fremdsprachlicher Wörter und Begriffe sowie Angaben zu Quellen und Literatur schließen sich an. Ein umfangreicher Personen- und Ortsnamenindex und die Fragen des Visitators in sprachlich moderner und komprimierter Form auf einem separaten Blatt beschließen das Werk. Drei Karten: 1) Das Bistum Minden und die innerhalb des Bistums liegenden Territorien des Jahres 1650, 2) Das Fürstentum Minden 1650 und 3) Der Amtsbereich des Superintendenten 1650 im Fürstentum Minden erleichtern die Orientierung bei der Lektüre.
Die vom Verfasser bearbeiteten und annotierten Visitationsprotokolle lassen keine Wünsche offen. Die einleitenden Kapitel geben eindrucksvoll die Situation beim Übergang eines katholischen geistlichen Territoriums in ein weltliches Fürstentum mit einer evangelischen Landeskirche nach dem Friedensschluss von Münster und Osnabrück und die damit verbundenen innerprotestantischen Probleme wieder. Besonders eindrucksvoll gelingt die Schilderung der Bemühungen des Superintendenten Julius Schmidt um die Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse in einem noch stark vom Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Land. Sein Fragenkatalog ist jedenfalls sehr weitgehend und detaillierter als anderswo und, wie erwähnt, auf eine noch zu erstellende Kirchenordnung ausgerichtet.
Verweise auf und Vergleiche mit Visitationen in anderen protestantischen (wie zum Beispiel Sachsen oder Herzogtum Preußen) aber auch in katholischen Territorien wären in diesem Zusammenhang empfehlenswert gewesen.
Anmerkung:
[1] Philipp Melanchthon: Unterricht der Visitatorn, an die Pfarhern in Hertzog Heinrichs zu Sachsen Fürstenthum, unter Mitarbeiter von Martin Luther, Wittemberg 1539. Digitalisiert unter: http://digital.bib-bvb.de/webclient/DeliveryManager?custom_att_2=simple_viewer&pid=3411733 [zuletzt abgerufen am 18.9.2014].
Donatus Düsterhaus