Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2014, 1451 S., ISBN 978-3-406-66051-1, EUR 39,95
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Auf voluminösen 1450 Seiten beschäftigt sich Ulrich Herbert mit der Geschichte Deutschlands im vergangenen Jahrhundert. Das mag auch daran liegen, dass sich der Freiburger Historiker bewusst gegen das Konzept eines "kurzen 20. Jahrhunderts" entschieden hat: Statt mit dem Ersten Weltkrieg setzt seine Darstellung bereits in den 1890er-Jahren ein. Nur so lasse sich die "tiefgreifende Veränderungsdynamik der Jahrzehnte zwischen 1890 und 1914" (13) erfassen. Dabei versucht Herbert die Komplexität der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert mithilfe von zwei Argumentationsbögen in den Griff zu bekommen: Während der erste das Verhältnis zwischen den beiden konträren Jahrhunderthälften (Krieg und Katastrophen in der ersten; Stabilität, Freiheit und Wohlstand in der zweiten) in den Blick nimmt, betrachtet der zweite den gesamten Zeitraum zwischen 1890 und dem Ende des 20. Jahrhunderts als (europäische) Phase der "Hochmoderne", die von der Suche nach neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen sowie tiefgreifenden industriegesellschaftlichen Veränderungen geprägt war. Herbert folgt nicht einer einzigen großen These zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, sondern verschiedenen "Leitspuren" (20). Im Einzelnen sind dies die Fragen nach dem "Verhältnis von industrieller Gesellschaft und politischer Ordnung", nach dem "Aufkommen und Abflauen des deutschen Radikalnationalismus", nach dem "Umgang mit der Kultur der Moderne und der Massengesellschaft", nach der "Dynamik der Gewalt und des Krieges", nach dem "Verhältnis von Eigenem und Fremden" sowie nach der Annäherung zwischen den europäischen Industriegesellschaften (20).
Ausgehend vom 25. Thronjubiläum Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1913 blickt Herbert auf das Kaiserreich nach der Entlassung Bismarcks zurück und führt den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg, aber auch die gesellschaftlichen Spannungen und Probleme eindrücklich vor Augen. Die ökonomische Prosperität und der wissenschaftlich-technologische Fortschritt hatten ihre Schattenseiten - etwa in den häufig schlechten Wohn- und Arbeitsverhältnissen sowie in der sich vergrößernden Kluft zwischen Arm und Reich. Zudem werden die kulturgeschichtlichen Entwicklungen, die mentale Verfasstheit und die Stimmung der verschiedenen gesellschaftlichen Milieus dargestellt. Vergleichsweise viel Raum widmet Herbert den radikalen Alternativkonzepten kommunistischer und völkischer Provenienz, die der als krisenhaft wahrgenommen Gesellschaft des späten Kaiserreichs entgegengestellt wurden. Zur Einordnung der deutschen Entwicklungen verweist Herbert dabei immer wieder auf die Situation in anderen Staaten. So gelingt es ihm, seinen Lesern ein anschauliches gesellschafts-, kultur- und ideengeschichtliches Panorama der Zeit zu vermitteln.
Erst in einem zweiten Schritt behandelt der Autor die politische Entwicklung des Kaiserreichs. Nun greift er sogar bis zur Reichsgründung zurück, ehe er den Bogen von Bismarck zu Bethmann Hollweg schlägt. Inhaltliche Schwerpunkte bilden die Entwicklung der Parteien und Massenorganisationen, der innere Reformbedarf des Kaiserreichs sowie das völkische und nationalistische Denken vor 1914. Mit Blick auf die Folgen für das 20. Jahrhundert arbeitet Herbert im Kapitel zum Ersten Weltkrieg vor allem die Wechselwirkung zwischen der (allzu großen) propagandistisch geschürten Erwartung und dem (allzu kleinen) politischen Handlungsspielraum sowie die ideengeschichtliche Entwicklung und die innenpolitisch-gesellschaftlichen Auswirkungen des Kriegs heraus. Am Ende der Kapitel zu Kaiserreich und Erstem Weltkrieg legt er dar, warum ihn die These vom "kurzen 20. Jahrhundert" nicht überzeugt: Nicht der Antagonismus zwischen Kommunismus und Kapitalismus kennzeichne das 20. Jahrhundert, sondern der Konflikt zwischen "liberaler Demokratie, Radikalnationalismus und Bolschewismus" (172 f.). Die Wurzeln der Massenbewegungen, die das 20. Jahrhundert prägten, lägen in den "fundamentalen Veränderungsprozessen der Jahrhundertwende" (173).
Auch im zweiten, der Weimarer Republik gewidmeten Teil des Buches verwendet Herbert viel Raum auf die Stimmungen, Erwartungen, Denkhaltungen und Mentalitäten in den verschiedenen Milieus. Die Geschichte Weimars deutet er zwar nicht teleologisch als unabwendbaren Weg in die Katastrophe des Nationalsozialismus; gleichwohl hebt Herbert die (ideen-)geschichtlichen Belastungen sowie die politischen und ökonomischen Probleme der Republik immer wieder deutlich hervor. Vor allem die aufgestachelten nationalistischen Erwartungen und die "Wahrnehmungsverweigerung" (193) gegenüber der deutschen militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg und ihrer Folgen erwiesen sich als verhängnisvoll. Schon in der Hyperinflation seien nicht nur Geldwerte, sondern vor allem das bürgerliche Grundvertrauen in den neuen Staat unwiederbringlich verloren gegangen, die sozialen Gräben hätten sich vertieft und insbesondere antisemitische Verschwörungstheorien seien befeuert worden. Außerdem sei der Ruf nach Ablösung der Parteienherrschaft durch einen autoritären Diktator laut geworden. Dennoch habe es in der Phase der Stabilisierung Mitte der 1920er-Jahre eine "zweite Chance" (222) für die parlamentarische Republik gegeben: Anhand des Jahres 1926 schildert Herbert die wirtschafts-, gesellschafts-, kultur- und ideengeschichtliche Situation der Weimarer Republik. Dabei gelingt ihm erneut eine kurzweilige und anschauliche Tour d'Horizon.
Erst vor dem Hintergrund des Traumas der Inflationszeit lasse sich die deutsche Erfahrung der Weltwirtschaftskrise verstehen. Angesichts der Massenarbeitslosigkeit Anfang der 1930er Jahre sei die Entwicklung seit 1918 den Zeitgenossen als "kontinuierliche Abfolge von Krisen und Katastrophen" erschienen; auch daraus erkläre sich die "Ablehnung von Weimar" (266). Intensiv widmet sich Herbert dem Aufstieg und der Ideologie der radikalen Parteien - eine Thematik, die sich wie ein roter Faden durch die Kapitel zieht. Besonders steht die Entwicklung der NSDAP zur Massenbewegung im Fokus. Gleichwohl, und das ist Herbert wichtig, gab es bis zuletzt Alternativen. In der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler schließlich erkennt Herbert "eine grundsätzliche Abkehr nicht allein von Weimar, sondern von der Option des Rechtsstaats, der parlamentarischen Demokratie und des liberalen Kapitalismus" (301). Allerdings sei der 30. Januar 1933 "keine Abkehr von der 'Moderne'", sondern vielmehr die Orientierung zu "eine[r] radikal andere[n] Moderne" (301) gewesen.
Auf 300 Seiten gelingt Ulrich Herbert eine konzise Darstellung der deutschen Geschichte vom ausgehenden Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik. Erfrischend ist, dass der Autor den sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen breiten Raum gibt, ohne gleichzeitig die Politikgeschichte zu vernachlässigen. Dabei folgt er überzeugend den eingangs genannten "Leitspuren". Die knappen Zeitschnitte für die Jahre um 1900 und das Jahr 1926 eröffnen eindrückliche Dioramen. Allerdings gehen einzelne Ausführungen - etwa zur Auslandskreditaufnahme oder zu den politischen Fememorden in der Weimarer Republik - bisweilen sehr ins Detail. Hier hätte eine stärker thesenhafte Zuspitzung dem Lesefluss gut getan. Gleichwohl sind die ersten beiden Teile in Herberts "Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert" eine sowohl für Historiker als auch für interessierte Laien empfehlenswerte und gewinnbringende Lektüre.
Jörn Retterath