Georg G. Iggers / Q. Edward Wang / Supriya Mukherjee (Hg.): Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 416 S., ISBN 978-3-525-30050-3, EUR 49,99
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Zweifellos: die Phase der nationalgeschichtlich orientierten Darstellungen von Geschichte ist abgeschlossen; es werden neue, weltgeschichtlich ausgerichtete Werke geschrieben. Vergessen wird aber oft, dass es neben der die letzten beiden Jahrhunderte dominierenden Gattung der Historiographie bereits eine "viel ältere Tradition der Universalgeschichtsschreibung" gibt, daran erinnert etwa Helwig Schmidt-Glintzer in der Einleitung der WBG-Weltgeschichte, die 2010 mit einem 6. Band abgeschlossen wurde. [1]
Für ein zeitgemäßes Verständnis der Welt in ihren globalen Bezügen kann und muss also angeknüpft werden an jene Werke, in denen die Geschichte bereits als eine grenzübergreifend verbundene und vielfältig miteinander verflochtene verstanden und beschrieben worden ist. Diese lange Zeit überlagerte Tradition zu rekonstruieren, stellt ein dringendes Desiderat dar. Doch sprengt ein solches Projekt gemeinhin die Grenzen der Ausbildung, die Historiker und Historikerinnen durchlaufen. Denn es setzt eine umfassende Literaturkenntnis der historiographischen Arbeiten aus den unterschiedlichen Winkeln des Erdballes voraus; bereits aufgrund der dafür erforderlichen Sprachkompetenzen eine schier unlösbare Aufgabe. Um sie richtig einordnen zu können, bedarf es zudem eines umfangreichen Hintergrundwissens und der Einsichten in die historischen Orientierungsbedürfnisse und Sinngebungsstrukturen der vielen Kulturen.
Gerade angesichts dieser Schwierigkeiten gibt der vorliegende Band eine Antwort von einzigartiger Brillanz. Sein völliger Ausnahmecharakter ist nur durch eine langjährige Vorbereitungs- und Arbeitsphase sowie eine ungewöhnlich günstige Konstellation von sich ergänzenden Autoren zu erklären: Georg G. Iggers verfügt über jahrzehntelange Erfahrungen mit Themen über das Geschichtsverständnis vor allem des Westens. Im Laufe seiner internationalen Karriere baute er Kooperationen mit Historikern und Historikerinnen aus aller Welt auf. So konnte er aus seinem breiten Netzwerk ein Team zusammenstellen, in dem Q. Edward Wang vor allem Kompetenzen über den chinesischen Bereich einbringt, Supriya Mukherjee über den indischen. Zahlreiche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus aller Welt werden zudem genannt, die den Entstehungsprozess des Buches beratend begleitet haben.
Ausgangspunkt der Analyse ist die Annahme einer zentralen Rolle des Westens als Impulsgeber der augenblicklichen Entwicklung. Diese Situation sei aber bisher nicht vergleichend in ihren Beziehungen zu den nichtwestlichen Kulturen untersucht worden. Ziel ist daher, die "Interaktion von westlichen und nichtwestlichen historischen Kulturen in all ihrer Komplexität" (17) darzustellen. Dabei sollen die Geschichtsbilder vor dem Hintergrund des "politischen, sozialen und intellektuellen Umfeldes" (11) eingeordnet werden, in dem die Publikationen entstanden und sich entfalteten. Ein ehrgeiziges Programm! Der Zeitrahmen wird auf die Epoche seit dem späten 18. Jahrhundert begrenzt. Die Einleitung greift die verschiedenen kritischen Diskussionen der Gegenwart um Postmoderne und Postkolonialismus auf: etwa Hayden Whites Konzept der Konstruktion von Geschichte durch Sprache oder die Forderung von Dipesh Chakrabarty, Europa müsse "provinzialisiert" werden. Ein eurozentristisches Verständnis von Geschichte gelte es abzubauen durch Einsicht in die Vielfalt der Geschichtssichten anderer Kulturen, so wird als Antwort auf die Vorwürfe verschiedener Theoretiker aus dem Globalen Süden von Anfang an klargestellt. Im Gegensatz zu ihren Forderungen wird aber auch engagiert Partei bezogen für einen Ansatz, der Globalisierung und Moderne grundsätzlich positiv bewertet und an der Möglichkeit einer rationalen historischen Forschung im Sinne des aufklärerischen Erbes festhält.
Der Aufbau ist chronologisch, wobei die Kapitel sich an zentralen weltgeschichtlichen Ereignissen orientieren. Multiperspektivisch werden stets mehrere, oft auch widersprüchliche Entwicklungen und Einflüsse in einer Phase/Region aufgegriffen; doch wird versucht, aus diesen Angeboten einen zentralen Strang herauszuarbeiten. Zunächst werden die Grundlagen einer europäischen Gelehrtentradition der Aufklärungszeit umrissen. Typisch waren ein lineares Zeitverständnis sowie ein Fortschrittsbewusstsein mit rassistischen Zügen. In den sich anschließenden Teilen über den vorderen Orient, Ost- und Südostasien wird vor allem auf die alten Traditionen des Geschichtsdenkens in diesem Raum hingewiesen, der sich wenig für das als rückständig wahrgenommene Europa interessierte. In China gab es eine textkritische Schule von "großer Vitalität und Dynamik" (68). Mit der Französischen Revolution und den Anfängen der Industrialisierung wuchs in Europa die nationale Orientierung, die auf eine Reformära der Muslime traf und diese beförderte. Als Antwort auf die Kolonialphase entwickelten viele Länder ein stärker national ausgerichtetes Geschichtsverständnis, das die älteren eigenen Traditionen hervorhob. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in der westlichen Welt drei Schulen prägend, die alle auf metaphysischen Voraussetzungen beruhen: Positivismus, Historische Schule und Marxismus. Es kam zu einem bewegten Austausch mit China und mit Japan, der in beide Richtungen verlief. Insgesamt beginnt sich dadurch international eine "Professionalisierung der Geschichtsforschung auf der Basis des Ranke'schen Modells" durchzusetzen (150).
Zugleich geriet der Historismus um die Jahrhundertwende in eine Krise, die sich in einer Hinwendung zu sozial- und kulturgeschichtlichen Themen äußerte. Im Jahrhundert der Extreme mit Imperialismus, zwei Weltkriegen und dem polarisierenden Kalten Krieg waren eine ganze Reihe von umwälzenden Entwicklungen für die Historiographie kennzeichnend: etwa die quantifizierende Forschung, Modernisierungstheorien, die Herausforderungen der Neuen Linken, auch die Forderungen des Feminismus. Die marxistisch geprägte Welt begann sich neu zu orientieren. Ein Wiedererstarken des Islam führte zu einer Abwendung von der westlichen Welt, wobei auch die Pluralität der Traditionen im eigenen Lager gedanklich bearbeitet wurde. Kamal S. Salibi, ein libanesischer Historiker (geboren 1916) gab einem Werk den Titel "A House of Many Mansions", damit symbolisch die Vielzahl der Einflüsse der verschiedenen Ethnien für die libanesische Geschichte kennzeichnend (329). Weltweit transformierte sich der Begriff "Nation": es wurde nicht mehr von der homogenen Einheit eines Landes ausgegangen. Für die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges werden vielfältige Einflüsse vor allem der neuen Kulturgeschichte konstatiert, auch die Genderforschung wird international prägend. Im Fazit wird die Aufgabe umrissen, die "Komplexität der Welt unter dem Einfluss der Globalisierung und der interkulturellen Konflikte" (356) zu erforschen, wobei die Dichotomie zwischen dem westlichen Modell und der nichtwestlichen Welt überwunden werden müsse.
Das alles ist äußerst kenntnisreich dargestellt, unzählige Werke von gerade auch außereuropäischen Historikern werden vorgestellt und ihr Einfluss diskutiert. Doch "ertrinkt" man nicht in dieser Flut von gelehrten Detailinformationen: Die sorgfältige Gliederung hält den Stoff vielmehr überschaubar, die Sprache bleibt verständlich und lebendig. Die "Lektüreempfehlungen" sind systematisch sortiert und bleiben auf einige zentrale deutsche und englische Titel begrenzt. Neben dem Personenregister hätte man sich allerdings auch ein Sach- sowie ein Ortsregister gewünscht.
Verwirrend ist der Titel, der für die deutsche Übersetzung gewählt wurde. Mit "Geschichtskulturen" bezeichnet die Geschichtsdidaktik die Präsenz von historischen Phänomenen innerhalb der verschiedenen Bereiche der Gesellschaft, also gerade nicht in der professionell verbalisierenden Fachliteratur, die hier die wichtigste Quellengattung darstellt. Das Konzept "Geschichtskulturen" konkurriert zudem mit dem theoretisch besser fundierten der Erinnerungskultur, das angemessener das Anliegen des Buches umreißen würde. Der Untertitel suggeriert, dass alle Kontinente behandelt werden. Der afrikanische aber bleibt fast völlig im Schatten. Gerade von dort aber gehen neue Herausforderungen aus, seit in dem westafrikanischen Timbuktu zahlreiche Handschriften aus dem 13.-.17. Jahrhundert ausgewertet werden, die auf einen frühen Austausch zwischen Europa, Asien und Afrika hinweisen. Mit einer Rezeption dieses faszinierenden Fallbeispiels würde auch das Epochenkonzept, auf dem das vorliegende Buch beruht, in Frage gestellt. Denn selbiges geht ja von der zentralen Rolle der Aufklärung für eine jegliche professionelle Geschichtswissenschaft aus und drängt damit frühere Gelehrtenkulturen anderer Kontinente zurück.
Zweifellos wird es viele Fortsetzungen dieses ambitionierten grandiosen Erstlingswerks zu einer globalen Historiographiegeschichte geben, mit ganz unterschiedlichen Akzenten. Es ist zu erwarten, dass sie - deutlicher noch als dieses Werk - die Geschichte Europas von außen beleuchten und dabei in einem völlig neuen Licht zeigen. Das innovative Potential des Themas ist noch in keiner Weise ausgeschöpft.
Anmerkung:
[1] Vorwort der Herausgeber von Helwig Schmidt-Glintzer, In: WBG-Weltgeschichte 6 Bände, Darmstadt 2009-2010, Bd. 1, XI-XVI, hier: XII.
Bea Lundt