Heinz Halm: Kalifen und Assassinen. Ägypten und der Vordere Orient zur Zeit der ersten Kreuzzüge 1074-1171 (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2014, 431 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-3-406-66163-1, EUR 34,95
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Das zurecht immer wieder geforderte Über-den-Tellerrand-Hinausschauen und der Trend zur Global History erfordern vor allem eines: gute Einführungen in die Geschichte ganzer Regionen - fachlich fundiert, aber dennoch für Nachbarwissenschaftler lesbar.
Heinz Halm gelingt es, eine solche vorzulegen. Auf 350 Textseiten behandelt er die Geschichte Ägyptens und des Vorderen Orients in den Jahren 1074 bis 1171 (mit einem Ausblick bis ins 20. Jahrhundert). Das Versprechen einer gut lesbaren Einführung erfüllt Halm schon in der Einleitung. "Um [...] dem mit der mittelalterlichen Geschichte des Vorderen Orients unvertrauten Leser die Orientierung [...] zu erleichtern" (11), legt er auf sechs Seiten die wichtigsten Phänomene und Konfliktlinien dar, die den Orient im 11. und 12. Jahrhundert prägten und den Hintergrund vieler Ereignisse bildeten, die man ohne die Kenntnis dieser "roten Fäden" kaum verstünde. Man kann diese Einleitung daher nicht genug loben. Zeigt sie doch zugleich, dass auch in unseren Tagen, wo das Weltwissen nur den berühmten Mausklick entfernt ist, es mehr denn je der Expertise von Koryphäen bedarf, die Schneisen ins Dickicht der Fakten schlagen.
Im Weiteren bildet die wechselvolle Geschichte und schließlich der Niedergang der Fatimiden-Dynastie das Grundgerüst des Buches. Halm verfolgt die Geschicke der einzelnen Herrscher und zeigt dabei auf, wie einzelne Kalifen immer wieder versuchten, selbstständige Herrschaft auszuüben, aber immer wieder auf mächtige Truppenführer als Wesire angewiesen waren, die ihrerseits oft genug in blutige Machtkämpfe verwickelt waren. Eigene Kapitel werden den (zeitweiligen) "Außenstellen" in Mekka und im Jemen gewidmet.
Spannend zu sehen ist, wie in offenen Nachfolgesituationen, als nicht klar war, welcher Sohn auf einen toten Kalifen folgen würde, neue Gruppierungen entstanden, die zunächst die Anhängerschaft eines gescheiterten (oder vermeintlichen) Thronkandidaten bildeten, im Laufe der Zeit aber eigene religiöse Vorstellungen und Herrschaftsmethoden entwickelten. Breiter Raum eingeräumt wird natürlich den Nazariten/Assassinen, ihrem religiösen Hintergrund, ihren Burgen und deren Herren und natürlich ihren Attentaten. Deutlich weniger ausführlich werden die Tayyibiten behandelt.
Das dritte große Thema sind die Konflikte, in die Kalifen wie Assassinen verwickelt waren, und hierunter besonders prominent die christlichen Kreuzzüge.
Die Erzählung orientiert sich zuvorderst an den Protagonisten. Diese werden zumeist knapp charakterisiert, ihre Herkunft genannt, oft ein Kurzlebenslauf referiert (auch bei Nebenfiguren etwa Usāma ibn Munqiḏ [232-234]). Auf kulturelle und religiöse Begebenheit wird etwas seltener eingegangen. Dazwischen werden immer wieder Abschnitte zur Baugeschichte eingeschoben. Sozialhistorische Aspekte findet man dagegen nur selten berücksichtigt.
Fragen, die der Text immer beantwortet, lauten: Wer hat die Macht, wer setzt sich durch, wie und gegen wen? Das Buch will dabei Darstellung sein. Es verfolgt keine These, Forschungskontroversen und Quellenkritik finden kaum statt (auch in den Anmerkungen/Endnoten vergleichsweise selten [1]). Halm gelingt es, spannend zu schreiben, ohne sprachlich ins Reißerische oder Effekthascherische abzugleiten.
Während so die in der Einleitung vorgestellten Entwicklungen und Konfliktlinien mit Fleisch gefüllt, konkret und anschaulich werden, fühlt sich der Leser allerdings zuweilen erschlagen von der Fülle der Fakten und der schnellen Abfolge von Ereignissen und Regimen. Manchmal hätte man sich einen Blick über die Fakten hinaus gewünscht. Gerade in den "offenen Momenten" der Geschichte, wo man sich fragt: "Hätte es nicht auch anders kommen können?"
1128 konnte der Kalif al-Āmir seinen Wesir al-Maʾmūn al-Baṭāʾiḥī stürzen und verhaften lassen, ohne auf Widerstand zu stoßen (165). Nur zwei Jahre später meuterten kairiner Truppen, als sie einen ihnen nicht genehmen Wesir eingesetzt fanden (178). Man fragt sich, wie solche Dynamiken zu erklären sind: Weshalb hielten die Kämpfer einmal still, während sie bei anderer Gelegenheit aufbegehrten? Wem waren sie loyal? Wer kontrollierte das Heer und wie?
Gerade weil immer aufblitzt, dass Ägypten eine Art Vielvölkerstaat war, in dem schwarze Soldaten, armenische, später syrische Truppen genauso ein Machtfaktor waren wie Beduinenstämme, hätte man sich einige Überlegungen mehr gewünscht: Wie trennscharf sind diese Gruppen voneinander geschieden? Wo ist der kulturelle und soziale Hintergrund dieser Verbände, was waren ihre Interessen jenseits des Tagespolitischen?
Positiv formuliert: Halm vermeidet größtenteils das Vage und Spekulative und flicht stattdessen die Fakten zu einer farbigen Erzählung.
Bedauerlich ist, dass es der Verlag unterlassen hat, das Werk, das arm an Fehlern ist [2], mit noch mehr redaktionellem Beiwerk zu versehen. Zwar enthält der Anhang ein Register und eine Aussprachehilfe zur Umschrift des Arabischen. Aber ergänzend zu den 15 Detailkarten hätte man sich eine Übersichtskarte gewünscht. Das Nachverfolgen der einzelnen Handlungsstränge wäre durch einen Zeitstrahl oder ein chronologisches Zeitablaufschema sehr erleichtert worden. Auch ein Glossar hätte nicht geschadet. Zwar werden Ausdrücke wie "Atabeg" (106) und "Negus" (214) bei der ersten Verwendung erklärt, aber man kann so etwas im Laufe der Lektüre durchaus vergessen. Als sehr hilfreich erweist sich dagegen, das erweiterte Quellenverzeichnis, in dem Quellen nicht nur genannt, sondern mit einer Kurzcharakteristik vorsehen sind. (Dies umso mehr, als wörtliche Quellenzitate im Haupttext zuweilen ohne jede An- oder Abmoderation eingewoben sind.)
Doch all das ist Mäkeln an Kleinigkeiten. Halm hat eine konzise, quellennahe, gut lesbare Darstellung des letzten Akts der Fatimiden vorgelegt, die einen lebendigen und doch unaufgeregten Einblick in die mittelalterliche Geschichte des Vorderen Orients bietet. Was es dem Orient-Spezialisten bringt, dieses Buch zu lesen, vermag der Rezensent nicht zu beurteilen. Für den Nachbarwissenschaftler ist die Lektüre ein enormer Gewinn.
Anmerkungen:
[1] Dafür weist Halm die These Dadoyans hinsichtlich der Herkunft Badr al-ĞamĀlīs gleich zweimal zurück: 358 Anm. 2 und 362 Anm. 123. Nochmals wird dieselbe Arbeit 382 Anm. 38 kritisiert.
[2] Ein ärgerlicher Zahlendreher in der Bildunterschrift: Es muss 1138 statt 1183 heißen (58). Auf Seite 222 ist wohl 1149 statt 1049 richtig. Mit "tercio Nonas Novembris" ist schließlich der 3. November, nicht der 13. gemeint (387 Anm. 140).
Christian Schwaderer