Nikolai Wehrs: Protest der Professoren. Der "Bund der Freiheit der Wissenschaft" in den 1970er Jahren (= Geschichte der Gegenwart; Bd. 9), Göttingen: Wallstein 2014, 539 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1400-9, EUR 44,00
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Mit seiner Monographie über den Bund Freiheit der Wissenschaft (BFW) in den 1970er Jahren leistet Nikolai Wehrs einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Auswirkungen von "1968" auf die politische Kultur der alten Bundesrepublik. Während die linke studentische Protestbewegung dieser Jahre von der zeithistorischen Forschung bereits eingehend gewürdigt worden ist, lenkt Wehrs den Blick auf ihre professoralen Gegner an den Hochschulen, die ab November 1970 gegen die "Demokratisierung" der Universität unter sozialistischen Vorzeichen mobil machten. Diese Perspektivverschiebung, die auf jüngeren Studien zur politisch-intellektuellen Polarisierung der 1970er aufbauen kann [1], lässt die durch "1968" initiierten gesellschaftlichen Veränderungen in einem neuen Licht erscheinen. Statt der kulturellen Liberalisierung tritt hier der politische Konflikt dieser Jahre eindrucksvoll hervor. Es wird deutlich, dass die Auseinandersetzungen dieser Zeit nicht nur für die Anhänger der Studentenbewegung - also die klassischen "68er" - identitätsstiftend waren, sondern auch für ihre Gegner, die ihre Zugehörigkeit zur ideologieskeptischen "45er"-Generation oft erst durch den Konflikt mit den radikalen Studenten entdeckten. Wehrs rehabilitiert somit den Zäsurcharakter von "1968", der in der jüngeren Forschung durch die Einbettung der Revolte in längerfristige Reformprozesse deutlich abgeschwächt worden war. [2]
In acht flüssig geschriebenen und quellengesättigten Kapiteln, die weitestgehend chronologisch strukturiert sind, zeichnet Wehrs ein dichtes Portrait der Geschichte des Bundes von seinen Anfängen in lokalen Zusammenschlüssen ab 1967 bis zu seinem Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit in den 1980er Jahren. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Hochphase des BFW und seiner lokalen Vorläuferorganisationen (etwa der West-Berliner Notgemeinschaft für eine Freie Universität - NofU) zwischen 1968 und 1973.
Wehrs skizziert zunächst die Entstehung des Bundes vor dem Hintergrund des Hochschulreformdiskurses in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren. Das Aufkommen des Demokratisierungsparadigmas in der Studentenbewegung und dessen zunehmende Radikalisierung deutet er als entscheidende Herausforderung der Professorenschaft. Der BFW war, so wird deutlich, in erster Linie ein Defensivbündnis. Dort sammelten sich "reformskeptische" Professoren, denen die Studentenproteste der späten 1960er Jahre nicht nur als Bedrohung des Lehrbetriebs an den Hochschulen erschienen, sondern die diese als fundamentalen Angriff auf die demokratischen Institutionen des westdeutschen Staates begriffen. Seine zeithistorische Relevanz bezog der BFW, so Wehrs, dabei nicht zuletzt aus der beachtlichen Anzahl seiner Mitglieder (5200 Mitglieder im Jahr 1972), die nicht nur dem akademischen Lehrkörper entstammten, aus den bemerkenswerten sozialen Flugbahnen einzelner Weggefährten sowie aus dem Renommee seiner Führungsriege. Sowohl der spätere Bundespräsident Roman Herzog als auch Joseph Ratzinger (besser bekannt als Papst Benedikt XVI.) zählten in den 1970er Jahren zu seinen Mitgliedern. Profilierte Wissenschaftler wie Ernst Fraenkel, Hans Maier, Erwin K. Scheuch, Thomas Nipperdey, Richard Löwenthal, Ernst Nolte und Wilhelm Hennis prägten den BFW zudem von Beginn an. Anfänglich durchaus noch ein parteiübergreifendes Bündnis wurde der BFW in der zweiten Hälfte der 1970er dann immer mehr zu einer "Vorfeldorganisation" der CDU.
Wehrs möchte den BFW ausdrücklich nicht als "alarmistisches Verteidigungsbündnis verschreckter Ordinarien, die sich in der modernen Welt nicht mehr zurechtfanden" (477), verstanden wissen. Ohne der Selbststilisierung der "widerständigen" Professoren blind zu folgen, macht er es sich zur Aufgabe, die professoralen Erfahrungen - inklusive Gefühle der Angst und Einschüchterung durch die Studentenrevolte - ernst zu nehmen. Das zweite Kapitel, das die Biografien und subjektiven Erfahrungswelten einzelner Professoren mittels eines prosopographischen Verfahrens nachzeichnet, ist somit besonders anregend. Durch das Engagement im BFW noch zusätzlich exponiert, mussten die hier portraitierten Professoren tatsächlich etliche Zumutungen ertragen. Auch jenseits der bekannten Revolutionszentren wie West-Berlin und Frankfurt hatten spätestens ab 1969 viele studentische Aktionen ihren fröhlich-karnevalistischen Charakter eingebüßt und oftmals destruktivere Züge angenommen. Der Beschuss mit Farbbeuteln, Eier- und Tomatenbewurf, verwüstete Büros, persönliche Beleidigungen, aufgebrochene Autos und Drohanrufe gehörten zwar niemals zum professoralen Alltag, blieben, wie Wehrs zeigen kann, aber auch keine reinen Einzelfälle. Besonders belastend waren solche Erfahrungen für jüdische Professoren, die erst nach 1945 aus dem Exil zurückgekommen waren, um sich am Aufbau eines demokratischen Staates in Deutschland zu beteiligen. Remigranten wie Ernst Fraenkel und Max Horkheimer, die das studentische Verlangen nach größerer Mitbestimmung zunächst recht wohlwollend als Zeichen voranschreitender Demokratisierung gewertet hatten, fühlten sich nun gar an die Methoden der SA erinnert. Fraenkel überlegte deshalb, erneut das Land zu verlassen. Allerdings griffen auch seine Mitstreiter, die keine persönlichen NS-Verfolgungserfahrungen gemacht hatten, in den Folgejahren immer rascher zum NS-Vergleich, um Aktionen der Linken zu diskreditieren.
Wehrs betont wiederholt, dass seine Darstellung des studentischen Protests aus Sicht der Protagonisten des BFW keine Gesamtwürdigung von "1968" liefern könne; vielmehr würden die destruktiven Aspekte der Studentenbewegung hier gewiss überbetont. Für viele Zeitzeugen, denen sich die BFW-Professoren als erzreaktionäre Befürworter des Radikalenerlasses und als Lieferanten "schwarzer Listen", die linke Studenten unter Generalverdacht stellten und etlichen den beruflichen Werdegang erschwerten, ins Gedächtnis eingebrannt haben, ist das sicherlich kein leichter Tobak. Doch Wehrs bemüht sich um Ausgewogenheit: Die Hysterie des BFW, der zunehmend apokalyptische Bedrohungsszenarien linker Unterwanderung entwarf und in Denkschemata aus den Anfangsjahren des Kalten Kriegs zurückfiel, wird ebenso thematisiert wie die Intoleranz der studentischen Linken, die bei aller berechtigen Kritik an autoritären gesellschaftlichen Strukturen vor Angriffen auf die persönliche Würde Einzelner nicht zurückschreckte. Der Autor leistet so einen entscheidenden Beitrag zu einer multiperspektivischen Sicht auf "1968". Etwas bedauerlich ist dabei, dass die Studie sich ausschließlich den männlichen Protagonisten des BFW widmet. Dies sei, so der Autor, "der im Untersuchungszeitraum noch ungebrochenen Dominanz von Männern in den akademischen (wie gesamtgesellschaftlichen) Funktionseliten geschuldet" (77). Dennoch werden an verschiedenen Stellen einzelne weibliche Mitglieder des BFW erwähnt, und so wäre es zumindest erwägenswert gewesen, ein oder zwei dieser Frauen in das prosopographische Verfahren aufzunehmen - etwa Ursula Besser, die Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses des West-Berliner Abgeordnetenhauses, die NofU-Mitglied war, oder die Chemikerin Margot Becke-Goehring, die 1966 in Heidelberg erste Rektorin einer westdeutschen Hochschule wurde und 1972 ins Leitungsgremium des BFW aufstieg. Dadurch hätte beispielsweise die Geschlechterspezifik der generationellen Selbstdeutung der "45er" klarer konturiert werden können.
Laut Wehrs gelang es den männlichen BFW-Professoren, den politischen Diskurs der 1970er Jahre ganz entscheidend mit zu bestimmen. Nicht zuletzt durch die Herausgabe von "Krawallkalendern", die den studentischen Protest penibel dokumentierten, schürten sie die öffentliche Angst vor studentischem "Terror". Die daraus resultierende Wahrnehmung des Klimas an den Hochschulen als "krisenhaft" und bedrohlich führte letztlich zum Scheitern einer breit angelegten Hochschulreform. Wehrs erblickt in der erfolgreichen Agitation des BFW in den frühen 1970er Jahren gar den entscheidenden Schlüssel zum Verständnis des allgemeinen politisch-kulturellen Wandels in diesem Jahrzehnt. Die öffentliche Kampagne des BFW auf dem Feld der Bildungspolitik hätte wesentlich dazu beigetragen, dass das Meinungsklima in der Bundesrepublik von Reformeuphorie in Reformskepsis umgeschlagen sei. Während die zeithistorische Forschung die Umbrüche dieser Dekade bislang vor allem an ökonomischen Zäsuren festgemacht hat [3], rückt Wehrs die Tiefenwirkung von "1968" auf die Protagonisten des BFW in den Vordergrund seiner Darstellung. Hier mögen sich Skeptiker fragen, ob eine solche Großthese nicht auch der Aufwertung des eigenen Forschungsgegenstands dienen soll, aber Wehrs liefert etliche überzeugende Beweise für seinen Befund, dass das Krisenparadigma - vom BFW forciert - bereits vor der Ölkrise von 1973 Eingang in den westdeutschen Diskurs gefunden hatte. Künftige Studien werden hier anknüpfen müssen, um durch internationale Vergleiche zu eruieren, wie stark die Nachwirkungen des politischen Konflikts von "1968" gegenüber dem strukturellen Wandel dieser Jahre tatsächlich gewichtet werden müssen. (Abgesehen von einem interessanten Exkurs über die internationale Vernetzung des BFW im "International Committee for the University Emergency", wird die internationale Dimension des Krisenparadigmas von Wehrs wenig berücksichtigt.) Schließlich waren die 1970er Jahre nicht nur in der Bundesrepublik ein Umbruchsjahrzehnt, sondern auch in anderen westlichen Industrieländern (wie etwa Großbritannien), in denen der studentische Protest von "1968" die politisch-kulturellen Identitäten kaum strukturierte. [4]
Aber auch solche vergleichenden Studien werden an Nikolai Wehrs "Protest der Professoren" wohl kaum vorbei kommen. Das Buch bietet eine exzellent recherchierte und fundierte Darstellung einer wichtigen bundesrepublikanischen "pressure group", die den politisch-intellektuellen Diskurs der 1970er Jahre weit mehr beeinflusst hat als bisher bekannt. Wehrs' innovativer Zugang, der den BFW sowohl ideengeschichtlich in die Großdebatten im konservativen Lager einordnet, als auch kulturgeschichtlich die persönlichen Erfahrungswelten einzelner Professoren ausleuchtet, macht die Arbeit besonders empfehlenswert. Zeithistoriker mit Fokus auf der Intellektuellengeschichte, der Protest- und Universitätsgeschichte sowie der Generationenforschung werden sie mit großem Gewinn lesen.
Anmerkungen:
[1] Massimiliano Livi / Daniel Schmidt/Michael Sturm (Hgg.): Die 1970er Jahre - auch ein schwarzes Jahrzehnt? Politisierungs- und Mobilisierungsprozesse zwischen rechter Mitte und extremer Rechter in Italien und der Bundesrepublik 1967-1982, Bielefeld 2010; Dirk A. Moses: German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2006; Jens Hacke: Philosophie der Bürgerlichkeit: Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006; Dominik Geppert / Jens Hacke: Streit um den Staat: Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960-1980, Göttingen 2008.
[2] Christina von Hodenberg / Detlef Siegfried (Hgg.): Wo "1968" liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006.
[3] Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom: Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.
[4] Hierzu etwa Niall Ferguson (Ed.): The Shock of the Global: The 1970s in Perspective, Cambridge, Mass. 2010; Andreas Wirsching / Goran Therborn / Geoff Eley / Hartmut Kaelble / Philippe Chassaigne: "The 1970s and 1980s as a Turning Point in European History?", in: Journal of Modern European History 9, 1 (2011), 8-26.
Anna von der Goltz